Essen. Am 17. Juni 1970 verlor Deutschland gegen Italien im dramatischen WM-Halbfinale von Mexiko mit 3:4 nach Verlängerung. Berti Vogts blickt zurück.

Ernst Huberty klang nie aufgeregt. Der Mann mit dem markanten Klappscheitel pflegte in der Zeit, als das Fernsehen von Schwarz-Weiß auf Farbe umschaltete, das moderate Wort zum Sport. Und so war es kein Zufall, dass der damals prominenteste Fußballjournalist der ARD als Kommentator vor Ort in einem legendären Augenblick nur diese beiden Worte sprach: „Ausgerechnet Schnellinger.“

Er brüllte dabei nicht, er stellte das einfach nur fest an jenem 17. Juni 1970 in Mexiko, heute vor vor 50 Jahren. Es lief das Halbfinale der Weltmeisterschaft, Italien führte gegen Deutschland seit der achten Minute durch einen Treffer von Roberto Boninsegna mit 1:0. Die Deutschen berannten in der zweiten Halbzeit unaufhörlich das italienische Tor, sie arbeiteten sich Chance um Chance, obwohl sie gehandicapt waren: Franz Beckenbauer hatte sich die Schulter ausgekugelt und spielte ab der 65. Minute mit einer Armschlinge weiter, weil die zwei damals erlaubten Auswechslungen bereits vollzogen waren.

Dann kam die letzte Minute, dann kam der große Moment des Mannes, der sein Geld als Profi in Italien verdiente, was damals noch eine Seltenheit war: Abwehrspieler Karl-Heinz Schnellinger beförderte den Ball nach einer Flanke von Jürgen Grabowski mit einem beherzten Sprung ins Netz. 1:1, Verlängerung! „Ausgerechnet Schnellinger.“ Und dann schwieg Ernst Huberty. Er ließ seine Worte wirken.

egendärer Treffer in einem legendären Spiel: Karl-Heinz Schnellinger, der als Profi in Italien spielte, springt in der 90. Minute heran und erzwingt eine Verlängerung
egendärer Treffer in einem legendären Spiel: Karl-Heinz Schnellinger, der als Profi in Italien spielte, springt in der 90. Minute heran und erzwingt eine Verlängerung © imago

Spektakuläre Tore in einer hochdramatischen Verlängerung

Es folgten 30 zusätzliche Minuten, denen dieses WM-Halbfinale den Ehrentitel Jahrhundertspiel verdankt. In der Verlängerung spielten beide Mannschaften auf Sieg, fünf spektakuläre Tore fielen noch. Ein Fußballdrama, unerreicht.

Berti Vogts braucht nur das Stichwort Mexiko, dann legt er los und schwärmt. „Die gesamte Weltmeisterschaft war einfach fantastisch“, sagt der heute 73-Jährige, der damals in der deutschen Abwehr als unersetzlich galt. Vor 50 Jahren war der spätere Bundestrainer zwar schon ein gestandener Profi, der mit Borussia Mönchengladbach kurz zuvor erstmals Deutscher Meister geworden war, aber doch ein vergleichsweise junger Kerl in diesem Aufgebot der Arrivierten. „Jeden Tag hatte ich großartige neue Erlebnisse“, erzählt er. „Wenn Helmut Schöns Assistent Jupp Derwall uns geweckt hat, habe ich mich schon auf den Tag gefreut. Alles war traumhaft schön, Mexiko war für mich ein Paradies.“

Berti Vogts empfand die Wochen bei seiner ersten WM auch als ideale Gelegenheit, um zu reifen, Demut war für ihn kein Fremdwort. „Um mich herum waren ja unfassbar viele gestandene Nationalspieler wie Uwe Seeler, Willi Schulz, Helmut Haller und wie sie noch alle hießen.“ Vogts genoss es, mit ihnen zu trainieren, mit ihnen zu spielen, von ihnen zu lernen.

Schon die zweite Verlängerung in wenigen Tagen

Das Jahrhundertspiel gegen Italien hat er als ganz großen Abnutzungskampf in Erinnerung. „Wir waren ja schon beim 3:2 gegen England im Viertelfinale in die Verlängerung gegangen“, erzählt er, „wir waren eigentlich am Ende unserer Kräfte.“

War 1970 beim Jahrhundertspiel dabei: Berti Vogts.
War 1970 beim Jahrhundertspiel dabei: Berti Vogts. © dpa

Aber Karl-Heinz Schnellinger ersparte dem Team die erneute Verlängerung nicht. „Wir hatten das Gefühl, dass er sich gar nicht richtig über das Tor gefreut hatte, weil er ja in Italien lebte“, sagt Vogts. Schnellinger war einer der Stars des AC Mailand, mit dem er Europapokalsieger geworden war, und Vogts muss lachen, als er erzählt: „Der hat uns allen gezeigt, dass er aus Mailand kam. Einen Mann im weißen Anzug mit weißen Schuhen hatte ich vorher noch nicht gesehen.“

Vor dem Fernseher hielt man es kaum aus vor Spannung

Im weißen Trikot warfen sich die beiden Abwehrspezialisten gemeinsam den Italienern entgegen. Die Verlängerung war von unfassbarer Spannung geprägt, vor dem Fernseher hielt man es kaum aus. Gerd Müller, der Unvergleichliche, für Berti Vogts „der beste Stürmer aller Zeiten“, traf zum 2:1 mit einem typischen Müller-Tor: Er schlich sich in der 94. Minute zwischen Abwehrspieler und Torwart und spitzelte den Ball irgendwie an Enrico Albertosi vorbei ins Netz. Vier Minuten später patzte der eingewechselte Dortmunder Linksaußen Sigi Held in ungewohnter Abwehrrolle, als ihm ein Ball wegsprang und Tarcisio Burgnich ausgleichen konnte.

Jetzt fühlten sich die Italiener im Aufwind, prompt schafften sie das 3:2. Gigi Riva, ein toller Stürmer, zog mit einem Haken an Schnellinger vorbei und überwand Sepp Maier mit einem ebenso strammen wie präzisen Linksschuss in der 104. Minute. Vor der zweiten Hälfte der Verlängerung schien Deutschland geschlagen zu sein.

Uwe Seeler und Gerd Müller – ein Weltklasse-Duo im Sturm

Aber das Team ignorierte den Kräfteverschleiß, ignorierte auch, dass das Spiel gekippt war. Und so fiel in Minute 110 tatsächlich das 3:3, eine Kopfball-Koproduktion der beiden deutschen Weltklassestürmer, von denen es vor der WM geheißen hatte, zusammen könnten sie nicht spielen. Uwe Seeler, der Kapitän, beförderte den Ball bei einem gewonnenen Kopfballduell im Strafraum vor das Tor, wo natürlich wieder Gerd Müller lauerte, der sich streckte und die Kugel einköpfte.

Kopfball zum  ß3:3 – Gerd Müllers zehnter Treffer bei dieser Weltmeisterschaft.
Kopfball zum ß3:3 – Gerd Müllers zehnter Treffer bei dieser Weltmeisterschaft. © imago

3:3. Waren jetzt die Italiener die Angeschlagenen?

Nein, sie waren es nicht, sie reagierten sofort, und sie erwischten die Deutschen schon in der nächsten Minute eiskalt. Ein Angriff über die linke Seite, ein perfekt zurückgelegter Ball, und der geniale Gianni Rivera vom AC Mailand schob den Ball zum 4:3-Siegtreffer ein.

Am Ende waren die Deutschen erschöpft und enttäuscht

„Wir waren leer, am Ende“, erinnert sich Berti Vogts. „Die Hitze, die Höhenlage, zwei Verlängerungen – und dann diese totale Enttäuschung. Wir waren ausgeschieden, obwohl wir ja noch das Spiel um Platz drei hatten.“ Das gewannen die Deutschen gegen Uruguay durch ein Tor von Wolfgang Overath mit 1:0. „Obwohl wir das Finale verpasst hatten, stufe ich diese WM in Mexiko höher ein als den Titelgewinn vier Jahre später in Deutschland“, bilanziert Berti Vogts.

Die Italiener bekamen im Endspiel die Quittung für den unglaublichen Aufwand im Halbfinale: Die famosen Brasilianer mit Stars wie Jairzinho, Rivelino und Tostao sowie Superstar Pelé rauschten mit 4:1 über sie hinweg. Berti Vogts war auch vom verdienten Weltmeister fasziniert: „Die Brasilianer spielten großartig. Die WM 1970 bleibt für mich die schönste von allen.“