München. 1972 feierte Deutschland seine Hockey-Helden. Der Erfolg wurde jedoch von einem Geiseldrama überschattet. Zwei ehemalige Spieler erinnern sich.
Mit ihrem Olympiasieg gegen Weltmeister Pakistan schrieb die deutsche Hockey-Nationalmannschaft am 10. September 1972 Sportgeschichte. Ein Erfolg, der fünf Tage zuvor von einem Attentat im Olympischen Dorf überschattet wurde. Das Geiseldrama erschütterte die Welt – und warf die Frage auf, ob die Spiele nach dem Tod von elf Israelis abgebrochen werden sollten.
Die beiden ehemaligen Nationalspieler Michael Krause und Werner Kaessmann erinnern sich im Gespräch mit Volontär Dennis Freikamp an die Turniervorbereitung im bayerischen Inzell, den Tag der Geiselnahme und das Finale gegen Pakistan. Und sie erklären, warum die Olympischen Spiele aus ihrer Sicht fortgesetzt werden mussten.
Mit welchen sportlichen Erwartungen sind Sie damals nach München gereist?
Krause: „Wir wollten die Goldmedaille, nichts anderes. Vor dem Start der Olympischen Spiele hatten wir eine Rundreise durch Indien und Pakistan gemacht und beide Mannschaften in ihren eigenen Stadien geschlagen.“
Indien und Pakistan galten als Top-Favoriten. Die Pakistaner waren amtierender Weltmeister, bis 1972 ging der Olympiasieg immer an eine der beiden Hockey-Nationen.
Krause: „Ganz genau. Und mit der Überzeugung, dass wir es in Indien und Pakistan geschafft hatten, haben wir uns in München die Goldmedaille vorgenommen.“
Kaessmann: „Man muss da unterscheiden: Wir im Team hatten natürlich den unbändigen Willen, im eigenen Land Olympiasieger zu werden. Aber Titelkandidaten waren in der Wahrnehmung der Hockeyszene andere.“
Welches Ziel hat Bundestrainer Werner Delmes vor dem Turnierstart ausgegeben?
Krause: „Der Delmes war ein ganz fanatischer Trainer. Wir haben während der Vorbereitung in großen Hotels übernachtet und unsere ganze Kleidung waschen lassen. Bei der letzten Besprechung hat er dann gesagt: ‘Eins sollte euch klar sein: Wenn ihr die Goldmedaille nicht holt, zahlt ihr die Wäschekosten selbst’. Das waren glaube ich rund 5000 Mark.“
Herrschte neben der Vorfreude auf Olympia auch ein gewisser Erwartungsdruck innerhalb der Mannschaft?
Kaessmann: „Im Vergleich zu den Spielen in Montreal vier Jahre später sind wir 1972 mit einer geringeren Nervenanspannung ins Turnier gegangen. In Montreal mussten wir unsere Goldmedaille verteidigen, in München wollten wir eine holen. Die Belastung war für uns überschaubar.“
Trainer verordnet Sylt-Urlaub und „gemischte“ Zimmer
Die deutsche Hockey-Nationalmannschaft startete in Gruppe A mit drei Siegen gegen Belgien (5:1), Malaysia (1:0) und Argentinien (2:1). Waren die Punkte fest eingeplant oder kam der Erfolg etwas überraschend?
Krause: „Die waren fest eingeplant. Wir hatten uns akribisch auf die Olympischen Spiele vorbereitet und kurz vor dem Turnierstart im Trainingslager in Inzell fünf Tage lang ohne Schläger trainiert. Wir kamen also hungrig zum ersten Spiel – und das haben die Belgier dann zu spüren bekommen.“
Kaessmann: „Wir haben auch im Vorfeld der Spiele mit der gesamten Mannschaft eine Woche Sylt-Urlaub gemacht, sind durch die Dünen gelaufen und haben zusammen Fußball gespielt.“
Sie waren also ein verschworener Haufen?
Krause: „Das war ganz wichtig. Wir hatten im Team eine Zweiteilung in Nord und Süd. Werner Delmes hat deshalb großen Wert darauf gelegt, dass die Mannschaft zusammenwuchs.“
Kaessmann: „Das ging sogar so weit, dass jeder ‘Westdeutsche’ schon bei allen Vorbereitungsturnieren einen Hessen oder Süddeutschen als Zimmergenossen zugeteilt bekam.“
Nach den drei Auftaktsiegen stand das Duell mit Weltmeister Pakistan an. Das vorgezogene Entscheidungsspiel um den Einzug ins Halbfinale?
Kaessmann: „So ist es. Wir hatten zwei Mannschaften in der Gruppe, vor denen wir richtig Respekt hatten: Pakistan und Spanien. Spanien war immer ein unangenehmer Gegner. Die standen sehr defensiv und vorne hatten sie einen, der die Ecken reingehauen hat. Deswegen waren Spanien und Pakistan die Schlüsselspiele – und wir mussten eins von beiden gewinnen, um sicher ins Halbfinale einzuziehen.“
Ihr Team schlug Pakistan in einer ruppig geführten Partie mit 2:1. Hatten Sie sich in der Vorbereitung auf die körperbetonte Spielweise der Pakistanis eingestellt?
Krause: „Ja, das hat uns nicht überrascht. Die Spiele gegen Pakistan waren immer ruppig. Deswegen musste man schon schwer aufpassen, wenn man gegen die Pakistanis spielte.“
Kaessmann: „Pakistan war eine sehr stolze Hockey-Nation. Für die Spieler war es eine Ehrverletzung, dass wir ihnen eine Lektion erteilt hatten. Sie haben ununterbrochen den Schiedsrichter beschimpft. Ganz nach dem Motto: Wenn der Bauer nicht schwimmen kann, ist die Badehose schuld.“
Überraschender Ausrutscher gegen Außenseiter Uganda
Wie war die Stimmung der deutschen Fans nach dem Sieg gegen Pakistan?
Krause: „Euphorisch!“
Kaessmann: „Man muss dazu wissen: Deutschland hat am Anfang der Olympischen Spiele 1972 kaum Goldmedaillen gewonnen. Die kamen erst mit dem Start der Leichtathletik, Rudern und später auch im Springreiten. Deshalb stieg die Erwartungshaltung der Zuschauer mit jedem Gruppensieg.“
Einen Tag nach dem Sieg gegen Pakistan kam die Bundesrepublik gegen Außenseiter Uganda nicht über ein 1:1 hinaus. Wie erklären Sie sich den Ausrutscher?
Kaessmann: „Ich weiß noch, dass ich ein Tor geschossen habe, das nicht anerkannt wurde. Wir waren turmhoch überlegen, hatten 70 bis 80 Prozent Spielanteile. Manchmal hat man einfach solche Spiele. Und man muss ja auch sehen, dass wir bis dahin fünf Länderspiele in sechs Tagen hatten.
Nach dem unglücklichen 1:1 mussten Sie gegen Angstgegner Spanien spielen. Deutschland siegte 2:1 und qualifizierte sich vorzeitig für das Halbfinale.
Kaessmann: „Richtig, da haben wir beide sogar die Tore gemacht. Michael Krause das 1:1 durch eine kurze Ecke und ich das 2:1 nach einem Alleingang von der Mittellinie.“
Auch das letzte Gruppenspiel gegen Frankreich wurde gewonnen (4:0). Mitten in die Partystimmung platzte am 5. September 1972 jedoch die Meldung, dass palästinensische Terroristen im Olympischen Dorf zwei israelische Sportler erschossen und neun Geiseln genommen haben. Wie haben Sie von der Geiselnahme erfahren?
Krause: „Das war morgens auf dem Weg zum Frühstück. Wir sind von unserem Quartier in der Straßbergerstraße zur Mensa gelaufen und auf der rechten Seite haben wir in der Connollystraße eine große Ansammlung von Menschen gesehen. Das müsste gegen kurz vor 9 Uhr gewesen sein. Wir konnten auch einen der Terroristen erkennen, der mit einer Kapuze über dem Gesicht auf dem Balkon stand.
Wie geht es weiter? Hockey-Team fällt eine Entscheidung
Die Geiselnahme zog sich bis in die Nacht hin und endete am Flughafen Fürstenfeldbruck in einer Tragödie: Alle neun Geiseln, ein Polizist und fünf der acht Terroristen kamen bei der missglückten Rettungsaktion ums Leben. Was ging in Ihnen vor, als Sie am nächsten Morgen die Nachricht vom Ausgang des Geiseldramas erreichte?
Kaessmann: „Völlige Unsicherheit und Leere.“
Krause: „Von meinem ersten Empfinden her waren die Olympischen Spiele in diesem Moment vorbei. Der Gedanke, dass sich der Sport nicht von Terroristen erpressen lassen darf, kam erst im Laufe des Morgens.“
IOC-Präsident Avery Brundage verkündete auf der Trauerfeier im Olympiastadion, dass die Spiele fortgesetzt werden müssten („The games must go on!“). Willi Daume, Chef des Nationalen Olympischen Komitees, erklärte, die Terroristen dürften nicht auch noch die Olympischen Spiele „ermorden“. Konnten Sie die Entscheidung nachvollziehen?
Kaessmann: „Ich war überzeugt, dass es die richtige Entscheidung war, weil die Olympischen Spiele das größte Sportereignis der Welt sind. Der Sport darf sich nicht durch Politik kaputt machen lassen. Ich glaube, diesen Gedanken hatte ich schon relativ früh.“
Krause: „Wir haben vor der Trauerfeier innerhalb der Mannschaft darüber diskutiert, ob es besser wäre, die Spiele abzubrechen. Aber die Tendenz war schon so, dass wir weiter machen und ein Zeichen setzen wollten.“
Gab es in ihrem Team auch Sportler, die gegen eine Fortsetzung der Olympischen Spiele waren?
Kaessmann: „Ich glaube schon, dass ein, zwei Spieler dabei waren, die starke Zweifel hatten. Die große Frage war ja auch, wie wir mental mit dieser Ausnahmesituation umgehen sollten. Das Attentat hat uns Spieler ja nicht unbeeindruckt gelassen – ganz im Gegenteil!“
Hatten Sie Angst, es könnte nach dem Attentat einen weiteren Vorfall im Olympischen Dorf geben?
Krause: „Wir hatten kein Schloss in der Tür. Das war am Vortag kaputt gegangen und wir kriegten es nicht repariert. Als wir am Abend nach dem Geiseldrama ins Bett wollten, ist uns dann plötzlich klar geworden, dass ja vielleicht auch jemand in unser Wohnquartier einbrechen könnte. Deshalb haben wir vor unserer Tür Plastikbecher aufgebaut, um rechtzeitig reagieren zu können, falls die Tür aufgeht. Einige von uns haben sich auch ihre Hockeyschläger neben das Bett gestellt.“
Kaessmann: „Ich persönlich habe das etwas anders empfunden. Für mich war klar, dass es nach dem Attentat keinen weiteren Zwischenfall geben würde. Aber natürlich macht man sich Gedanken.“
Holländer täuschen Nichtantritt vor
Wie haben Sie es geschafft, das Geiseldrama im Halbfinale gegen die Niederlande auszublenden und sich voll und ganz auf den Sport zu konzentrieren?
Kaessmann: „Uns blieb gar nichts anderes übrig, als uns trotz der Erlebnisse weiter zu Höchstleistungen zu pushen. Denn wenn du während des Spiels anfängst, über das Attentat nachzudenken, kannst du nicht mehr weiter machen.“
Krause: „Da haben uns auch die Holländer geholfen, das weiß ich noch ganz genau. Einen Tag vor dem Halbfinale ist ein holländischer Funktionär zu uns gekommen und hat gesagt, sie würden nicht antreten. Als unser Trainer das hörte, hat er gesagt: ‘Jungs, die ersten die kommen, sind die Holländer. Bereitet euch vor wie immer.’ Und als wir dann am Tag des Halbfinals den Platz betreten haben, machten sich die Holländer bereits warm. Mit diesem Wutempfinden, dass sie das Geiseldrama ausnutzen, um uns zu verunsichern, bin ich in das Spiel gegangen.“
Das Halbfinale endete mit einem deutlichen 3:0-Sieg für Deutschland. Zwei Tage später stand das Finale gegen Pakistan an. Wie verlief das Spiel aus Ihrer Sicht?
Kaessmann: „Die Pakistanis waren verkrampft und hatten schon nach der Niederlage in der Gruppenphase ihr Fett weg. Die waren unzufrieden damit, dass wir so hartnäckig Widerstand leisteten, dass sie nicht an uns vorbeikamen, dass sie kaum kurze Ecken kriegten und dass ihr System nicht so funktionierte wie sie sich das vorgestellt hatten.“
Eine Viertelstunde vor Schluss stand es immer noch 0:0. Dann bekam Peter Trump vom argentinischen Schiedsrichter wegen Meckerns die Grüne Karte gezeigt und musste mit einer Zeitstrafe vom Feld.
Krause: „Der Schiedsrichter hat uns eine Ecke zugesprochen, aber Trump hat sich beschwert, weil er den Schläger eines Pakistanis abbekommen hatte. Ich konnte seine Aufregung zu 100 Prozent nachvollziehen. Als er dann vom Feld musste, dachte ich, jetzt würde Werner Kaessmann eingewechselt werden. Er war der Allrounder in unserer Mannschaft.“
Kaessmann: „Damals durfte man nur bis zur 55. Minute wechseln. Deshalb war es für mich die letzte Möglichkeit, um doch noch zu spielen. Ich hatte bis dahin in sechs von acht Spielen auf dem Feld gestanden und war der festen Überzeugung, dass ich der Mannschaft weiterhelfen konnte. Als der Trainer trotzdem nicht reagierte, war ich natürlich enttäuscht. Ich glaube aber, er war einfach so aufgeregt, dass er die Chance zu wechseln in dem Moment nicht erkannte.“
Hockey-Team wird zur Mannschaft des Jahres 1972 gewählt
Es kommt zur Strafecke für Deutschland: Carsten Keller passt Richtung Schusskreis, Uli Voss stoppt mit der Hand und Michael Krause schlägt den Ball unhaltbar ins Tor. Wie war das Gefühl, das entscheidende Siegtor zum 1:0 zu erzielen?
Krause: „Das sehen Sie an den Bildern, wie hoch man plötzlich springen kann. Ich glaube, ich bin in meinem ganzen Leben nie so hoch gesprungen wie im Finale 1972.“ (lacht)
Kaessmann: „Wir haben auf der Ersatzbank alle mitgefiebert. Aber als das 1:0 fiel, war ich der festen Überzeugung, dass die Pakistanis kein Tor mehr schießen würden.“
Die Hockey-Nationalmannschaft wird Olympiasieger und von Sportjournalisten zur Mannschaft des Jahres 1972 gewählt, obwohl Beckenbauer, Müller, Breitner und Co. im selben Jahr Fußball-Europameister wurden. Ab wann ist Ihnen bewusst geworden, was Sie in München erreicht haben?
Kaessmann: „Wir haben schon mitgekriegt, dass Hockey nach unserem Erfolg plötzlich einen ganz anderen Stellenwert hatte. Aber die Erkenntnis, wie einzigartig dieser Olympiasieg war, haben wir erst im Laufe der Jahrzehnte gewonnen.“
Wenn Sie sich heute an Olympia 1972 erinnern, woran denken Sie zuerst – an den Olympiasieg oder an das Geiseldrama?
Krause: „Es ist das Zusammenspiel zwischen dem Attentat auf der einen und der Goldmedaille auf der anderen Seite. Das beinahe Scheitern – aus Gründen die wir nicht beeinflussen konnten – und dann doch dieser Olympiasieg.“
Kaessmann: „Das was an erster Stelle bleibt, ist sicherlich die Goldmedaille. Und das Zweite, das ‘Aber’, ist das, was sich zeitgleich im Olympischen Dorf ereignete. (def)