Mülheim. . Das böse Erwachen: Warum mich Ben Johnson 1988 um den Schlaf brachte und was Bayer Uerdingen damit zu tun hat. Eine sehr persönliche Erinnerung.

Schlafen und Sport, mein Schicksal – das hing bei mir offensichtlich schon immer irgendwie zusammen, eine frühe Störung. Nicht, dass ich meine eigene Kicker-Karriere verpennt hätte, als rumpeliger Vorstopper war der Weg zu steinig und schwer bis zum eigenen Panini-Bild: kein Mensch, kein Tier, die Nummer vier… Egal, ich war 14 und der Mittwoch und nur der Mittwoch noch Europapokaltag. Im Zweiten von damals drei Programmen lief das Rückspiel von Bayer Uerdingen (so hieß der KFC mit Mädchennamen) gegen Dynamo Dresden, vorwendisch West gegen Ost. Statt Klassenkampf rief mich am nächsten Tag das Klassenzimmer, deshalb durfte ich bloß die erste Halbzeit sehen…

Klassenarbeit statt Klassenkampf! Das Wunder von der Grotenburg: ohne mich...
Klassenarbeit statt Klassenkampf! Das Wunder von der Grotenburg: ohne mich... © dpa Picture-Alliance / dpa_Vetter

Schließlich stand eine Mathearbeit an und mit einer Mathelehrerin als Mutter erfolgte für mich der Abpfiff ins Bett schon nach Durchgang eins. Was sich dann abspielte, da sollte sich der Fußball-Philosoph Karl-Heinz Rummenigge geirrt haben, von wegen Fußball sei keine Mathematik. Wobei, das Hinspiel vergeigt mit 0:2 und jetzt 1:3 zur Pause, da glaubte keiner mehr an irgendwas. Das störte mich allerdings nicht, als Fußballverrückter wollte ich trotzdem alles gucken. Keine Chance! Vom 7:3 in Krefeld – dieser unfassbaren Aufholjagd, ein Jahrhundertspiel: das Wunder von der Grotenburg – las ich am nächsten Morgen in der Zeitung. Und war so sauer, dass ich die Arbeit absichtlich verhauen habe: sechs! Das hat mir schön die Zeugnisnote gedrückt, doch der einzige Kommentar der Mathe-Mama war: „Eigensinn bringt keinen Gewinn!“

Ketten in die Wertsachentüte

Zwei Jahre später, 1988: Loriots „Ödipussi“ im Kino, Rammstein (die Flugshow-Katastrohe, nicht die Band), der erste Golfkrieg, das Geiseldrama von Gladbeck, die Geburt von Kevin Großkreuz. Und: Olympia in Seoul. „Go for Gold in South Korea, Go for Gold in 88“, so der angemessen einfältige Hit der Spiele, der natürlich nie im Leben an das emotionale „Reach out for the medal“ von Giorgio Moroder bei der Vorgänger-Veranstaltung in Los Angeles ranreichte. Sei’s drum. Ich fieberte dem 100 Meter-Finale entgegen, was wegen der Zeitverschiebung ärgerlich früh stattfand. Für mich die nächste nächtliche Ruhestörung. Mein Motto als halber Halbstarker war eher „Ich bin gut drauf und ich schlaf gern lang“ ... – Ibiza-Ibo in Mülheim an der Ruhr.

So sehen Doping-Sieger aus: Sprinter Ben Johnson, damals 26 und voller Muskeln – Stanozolol sei dank. Später behauptete er, man habe ihm vor der Probe was ins Bier geschüttet. Heute ist er Botschafter gegen Doping...
So sehen Doping-Sieger aus: Sprinter Ben Johnson, damals 26 und voller Muskeln – Stanozolol sei dank. Später behauptete er, man habe ihm vor der Probe was ins Bier geschüttet. Heute ist er Botschafter gegen Doping... © REUTERS / Gary Hershorn

Warum ich ausgerechnet für Ben Johnson meinen Schönheitsschlaf unterbrach? Heute schwer zu sagen. Hätte der Super-Sprinter statt des Kanada-roten Laufanzugs einen grünen getragen, hätte er mit seinen Bizeps – damals sprach man wohl von Muskelprotzen – glatt dem unglaublichen Hulk Konkurrenz gemacht. Dazu diese Kette! Beim Fußballtraining hieß es immer „Lametta ab“ und derlei Schmuckgedöne hatte in die Wertsachentüte zu wandern, aus der man seinen Kram hinterher mit einer Legierung aus roter Asche wieder rausangeln konnte. Die Silberkette von Ben Johnson aber, das war Marke Fahrradschloss, selbst für die späten Achtziger gewagt und mindestens Inspiration für die aufkommenden HipHop-Videos von Public Enemy und deren rappenden Konsorten.

Wie Spike aus dem Startblock

Wahrscheinlich war es das Duell, das elektrisierte. Ben Johnson gegen Carl Lewis, Big Ben gegen King Carl, hochgejazzt wie Ali gegen Frazer, ein starker Starter gegen den schnellen Finisher. Lewis mochte ich einfach nicht, mehr arrogant als elegant, aufreizend aufrecht wie Ballack dieser Laufstil. Außerdem war Lewis der Favorit, der schon alles gewonnen hatte, und Johnson der Herausforderer. Der abseits der Laufbahn schüchterne Stotterer hatte dazu noch einen sympathischen Einwanderer-Bonus, wer mag keine Aufsteigergeschichten?

Beide Kontrahenten gehörten zu den letzten, die sich in die „ready-set-go“-Position begaben, ist ja auch immer viel Psycho im Spiel. Tatsächlich explodierte Johnson aus dem Startblock wie Spike, die bullige Bulldogge aus Tom und Jerry-Zeichentrickfilmchen. Bloß kam Lewis diesmal nicht hinterher – und Johnson gewann mit Jubelfinger und Weltrekord: 9,79 Sekunden. Und ich mit Gert Rubenbauer vorm Fernseher, Aufsteh-Aktion gelohnt.

In 9,79 die Unschuld verloren

Das böse Erwachen kam ein paar Tage später. Gedopt! Gedopt? Wie kann das sein? Das gab es damals so eigentlich noch nicht, dass der Verdacht immer mit läuft oder mit fährt wie bei der Tour. Katrin Krabbe, Jan Ullrich, Dieter Baumann, diese Fälle waren alle später. Nein, binnen weniger als zehn Sekunden hat die Leichtathletik, hat der saubere Sport die Unschuld verloren.

Wie sich herausstellte, waren lediglich zwei der acht Finalisten keine verbotenen Mittel nachzuweisen – Johnsons Trainer Francis hatte wohl kaum zufällig den Spitznamen „Charlie, der Chemiker“. Man spricht vom schmutzigsten Rennen aller Zeiten. Ben der Betrüger verlor alles: Ruf und Rekord, Medaillen und Millionen. 1993 flog er erneut auf und wurde lebenslang gesperrt. Dumm gelaufen, nix gelernt! Ich schon: Nie wieder habe ich mir später den Wecker gestellt, nicht fürs Aufsmaulhauen im Ring und auch nicht wegen Schumis Autorennen. Sport ist Sport und Schlaf ist Schlaf.

Dieser Artikel erschien zu erst in den NRW-Titeln der Digitalen Sonntagszeitung der Funke Mediengruppe. Hier geht es zum Angebot: