Gummersbach. Heiner Brand führte das Handball-Nationalteam 2007 zum WM-Titel. Vor der in zehn Tagen beginnenden WM setzt er erneut auf den Heimvorteil.
Zum Haus von Heiner Brand führt eine steile Straße in Gummersbach hinauf. „Wollt Ihr zum Heiner?“, fragt ein Mann auf der Straße, als er zwei Reporter und einen Fotografen erblickt. „Da vorne rechts“, sagt er routiniert, als würde er Touristen Tag für Tag den Weg zur größten Sehenswürdigkeit der Stadt erklären. Da vorne rechts wird also geklingelt. Beim berühmtesten Gummersbacher. Bei dem legendären Handballer, der als Spieler und als Trainer Weltmeister wurde. In diesen Tagen freut sich der 66-Jährige auf die Weltmeisterschaft in Deutschland und Dänemark, die am 10. Januar beginnt.
Herr Brand, wie lebt es sich als Prominenter in Gummersbach?
Ich kenne natürlich schon eine ganze Menge Leute in der Stadt. Ich gehöre halt seit 66 Jahren zum Stadtbild dazu. Außerhalb von Gummersbach werde ich aber nach wie vor häufiger angesprochen als in Gummersbach selbst. Aber es ist tatsächlich so, dass es mich nicht nervt. Es gibt weitaus weniger unangenehme Situationen als schöne. Bei Franz Beckenbauer ist das sicher noch einmal eine ganz andere Nummer. Der kann in München nicht in die Kneipe gehen und in Ruhe sein Bierchen trinken.
Sie sind Gummersbach immer treu geblieben. Warum sind Sie nie in die weite Welt hinausgegangen?
Als Spieler war ich zweimal fast weg, aber das hatte eher berufliche Gründe, wir haben damals ja noch neben dem Handball gearbeitet. Aber man muss auch die Rolle der Familie Brand hier im Gummersbacher Handball sehen. Mein Vater hat den Handball nach dem zweiten Weltkrieg hier aufgebaut, meine Brüder waren Mitglieder der ersten Meistermannschaft. Da besteht schon eine besondere Bindung. Aber komischerweise wollte auch meine Frau gar nicht von hier weg, obwohl sie nicht aus Gummersbach kommt, sondern aus der Nähe von Soest.
Am 10. Januar beginnt die WM in Berlin, Sie sind Botschafter für den Hauptrunden-Spielort Köln. Wie stellen wir uns Ihren Handball-Alltag vor? Schauen Sie sich noch sehr viele Spiele an?
Ich lasse ganz viel sausen. Ich habe in meinem Leben genug Spiele gesehen (lacht). Die Heimspiele des VfL Gummersbach gucke ich, wenn ich hier bin, aber das ist mir derzeit nervlich zu aufreibend, obwohl es ja keine fünf Minuten zu Fuß zur Halle sind. Richtig verfolge ich die Bundesliga, wenn ich für Sky als Experte im Einsatz bin. Bei der Heim-WM bin ich dabei, aber sonst richte ich meinen Terminplan nicht mehr nach dem Handball aus. Meine erste WM habe ich als Junge 1961 in Dortmund verfolgt. Das Finale spielten Rumänien und die Tschechoslowakei, 9:8 nach Verlängerung.
Chance auf einen neuen Handball-Hype
Ist diese WM in Deutschland und Dänemark die große Chance, den Handball wieder nach vorne zu bringen? Eine Begeisterung zu entfachen und Kinder in die Vereine zu bringen?
Der Anspruch an eine Nachhaltigkeit wird wohl nicht in den Köpfen der Spieler sein. Einen gewissen Anspruch an die eigene Leistung haben sie alle trotzdem, eine Heim-WM ist ein Vorteil, und die Chance ist groß, vorne dabei zu sein. Der eine oder andere wird auch auf 2007 zurückschauen und wissen, welchen Hype das Ganze damals entfacht hat.
Das sorgt auch für Anspannung.
Die hatten wir 2007 auch. Ich war vor dem Eröffnungsspiel gegen Brasilien nervöser als später vor dem Endspiel gegen Polen. Das erste Spiel war eine reine Gurkerei. Insofern kann der Druck zu Beginn eines Turniers schon ein gewisses Problem darstellen. Bei uns hat sich dann alles im ersten Hauptrundenspiel gegen Slowenien gelöst, danach kam fast eine gewisse Lockerheit in unser Spiel.
Der Nationalmannschaft fehlen Führungsspieler
Damals gab es in der Mannschaft stabile Stützen wie Christian Schwarzer, Markus Baur, Henning Fritz und Florian Kehrmann. Echte Typen. Und heute?
Es fehlen Führungsspieler, das hat sich zuletzt bei der Europameisterschaft herauskristallisiert. Die Spieler haben viele Erfahrungen in der Bundesliga gesammelt, zum Teil in verantwortungsvollen Positionen. Nehmen wir nur Paul Drux mit gerade mal 23 Jahren – wie erfahren der schon ist. Aber eine richtige Führungsfigur hat sich noch nicht herausgebildet. Da ist sicherlich ein Patrick Wiencek, der sowohl in kämpferischer Hinsicht als auch von der körperlichen Statur ein Kandidat ist, der in Abwehr und Angriff im Zentrum spielt. Ob er allerdings dieser Führungsspieler ist, der auch mal Ansagen macht und das Tempo des Spiels bestimmt und als Typ einfach vorneweg marschiert, ist fraglich. Dazu kann man niemanden zwingen. Da bin ich gespannt, ob sich bei der WM einer herausbildet. Bei der EM im vergangenen Januar habe ich keinen gesehen.
Deswegen wird Christian Prokop auch Martin Strobl geholt haben, damit dies zumindest auf dem Spielfeld gewährleistet ist. Strobl ist zwar eher ein ruhiger Typ, aber er bringt Erfahrung mit, kann die anderen leiten, obwohl er wohl auch kein Wortführer ist, der einen auf dem Spielfeld mal zurückpfeift.
Was kann diese Mannschaft bei der WM erreichen?
Sie kann viel erreichen. Es sind gute Jungs, die in jungen Jahren viele gute Leistungen gebracht haben. Wenn sie mit dem Druck zurechtkommen und von der Heimkulisse profitieren, wie wir es damals zum Ende des Turniers getan haben, wenn sich eine klare Führungsstruktur entwickelt. Vor allem darf nicht jeder seine Vorstellungen umsetzen und eigenmächtig die Abwehr umstellen, wie das ja Hendrik Pekeler und Patrick Wiencek vergangenen Januar während der EM getan haben sollen. Da muss ein klarer Weg vorgezeichnet sein, den alle Beteiligten konsequent gehen müssen. Da müssen wirklich alle an einem Strang ziehen, und der Trainer muss interne Diskussionen klar managen. Er kann aber nicht auf jeden Rücksicht nehmen und dann halbe Sachen machen, sonst wird er unglaubwürdig. Er ist der Bundestrainer und er muss den eigenen Weg gehen.
Heiner Brand: Geduld mit Christian Prokop
Hat Christian Prokop es schwerer als Sie es 2007 hatten? Sie waren als Bundestrainer der große Heiner Brand, zu Ihnen haben die Spieler aufgeschaut.
Es ist sicherlich schwerer für ihn, die Ausgangssituation war ja schon zu seinem Amtsantritt nicht einfach. Wenn man ihn aus einem bestehenden Vertrag nach einem guten Jahr Bundesliga in Leipzig herausholt und eine Ablösesumme bezahlt in einer Dimension, die mit 500.000 Euro für Handball-Verhältnisse unglaublich hoch war und ihn mit einem Fünfjahresvertrag ausstattet, dann ist doch klar, dass da im Falle des Misserfolges direkt Gegenwind kommt. Ich war damals als Trainer ja schon ein paar Mal Deutscher Meister geworden und hatte mein Standing auch aus der Zeit als Spieler.
Nach der EM sah es ja eine Zeit lang so aus, als müsse Christian Prokop gehen. Sie haben sich aber für einen Verbleib ausgesprochen.
Ich bin nach wie vor der Meinung, dass man nicht alles an ihm festmachen kann. Die Spieler sind auch in der Pflicht, und um die Mannschaft herum gibt es auch ein Team. Das Umfeld muss den Trainer auch unterstützen. Die Verantwortlichen haben dem Christian diesen Vertrag gegeben. Dann nach einem Misserfolg zu sagen: Jetzt muss er weg - das ist mir ein bisschen zu einfach.
Ist Christian Prokop denn wirklich ein Jahr weiter?
Das werden wir erst bei der WM erfahren. Er wird sich sehr, sehr viele Gedanken gemacht haben, er ist ja sehr selbstkritisch. Ich glaube, dass er die Lehren aus der EM gezogen hat.
Gibt es heutzutage weniger Geduld? Als Sie 1997 Bundestrainer wurden, kamen die ganz großen Erfolge ja auch nicht sofort.
Moment! Wir haben uns schon direkt für die EM qualifiziert und Bronze geholt. Aber Sie haben Recht, wenn ich mich daran zurückerinnere, wie wir in den ersten Jahren die Mannschaften zusammengesucht haben, das war schon lustig. Wenn mal zwei, drei Spieler wegen Verletzungen abgesagt haben, habe ich zur Handballwoche (Fachzeitschrift, d. Red.) gegriffen und geguckt, wer denn für die Position überhaupt noch in Frage kommt (lacht). Das Angebot war damals nicht so groß. Ich wollte eine Mannschaft um Daniel Stephan aufbauen. Er war dann zur WM immer verletzt, hat bei keinem der Turniere mitgespielt. Über acht, neun Jahre waren wir immer ganz vorne dabei. Am wenigsten vorne dabei waren wir vor 2007.
Erinnerungen an den Heimvorteil 2007
Wirklich?
Wir waren 2007 nicht so gut wie zwischen 2000 und 2004. Aber in der Zeit hatten wir auch Pech. Aber das war spielerisch schon die beste Zeit. 2007 hat uns der Heimvorteil geholfen, aber auch, dass einige Spieler über ihre Verhältnisse gespielt haben. Torsten Jansen beispielsweise, der hatte eine Quote von 95 Prozent, Holger Glandorf und Christian Zeitz haben sich phänomenal ergänzt.
2007 wurden Sie vor dem Turnier gefragt, ob Sie den Jungs Bilder von dem deutschen WM-Triumph von 1978 zeigen werden. Sie haben gesagt: Bloß das nicht, dann würden die ja sehen, dass spielerisch Welten dazwischen lagen. Wenn Sie jetzt von 2007 auf 2019 gucken - hat sich noch mehr verändert?
Von der Qualität des Spiels her hat sich nicht unbedingt so viel geändert, vielleicht noch einmal ein klein wenig von der Athletik her. Klar hat sich taktisch durch den Einsatz des siebten Feldspielers noch einmal etwas geändert, aber der Sprung ist nicht so groß.
Stichwort Athletik: Wird den Spielern der Spitzenklubs mit Einsätzen in der Bundesliga, Pokal, Champions League und Nationalmannschaft zu viel abverlangt?
Die Probleme haben sich ja noch verstärkt, wobei die Bundesliga reagiert hat und den Spielplan schon nach Weihnachten unterbrochen hat statt bis kurz vor die WM spielen zu lassen. Aber international muss man sich fragen, ob diese aufgeblähte Champions-League-Phase sein muss. Oder die Klub-WM, zu der die Teams natürlich fahren, weil es Geld gibt. Grundsätzlich halte ich alles schon für grenzwertig. Das Harte sind ja meist nicht die Spiele, sondern die Reisen. Auch jeder Privatmann weiß, dass stundenlanges Herumhängen am Flughafen anstrengend ist. Da steigt beim Profisportler natürlich die Verletzungsanfälligkeit. Wir sprechen immer über die Basketball-Liga NBA mit ihren 82 Spielen plus Play-offs, aber die machen im Sommer immerhin eine richtige lange Pause, um abzuschalten und ein vernünftiges Aufbautraining zu machen. Die Bundesliga hat ja auch wirtschaftliche Zwänge. Aber wenn man dann sieht, wie oft junge Spieler wie Simon Ernst, Paul Drux und Fabian Wiede verletzt sind. Die trainieren durch die professionelle Jugendarbeit heutzutage aber auch doppelt so viel wie ich früher, als ich angefangen habe. Bei uns in der Bundesliga war Dienstag und Donnerstag Pflicht, der Rest war Zusatz (lacht).
Das ist Heiner Brand
Schon als Spieler war Heiner Brand (66) eine Größe: Sechsmal wurde er Deutscher Meister mit dem VfL Gummersbach, viermal Pokalsieger und international unter anderem zweimal Europapokalsieger der Pokalsieger. 1978 gewann er mit Deutschland den WM-Titel.
Als Klub- und als Bundestrainer ging die Erfolgsserie weiter. Die größten Triumphe: Europameister 2004, Olympiazweiter 2004, Weltmeister 2007.
Bedeutet Ihnen eigentlich ein Titel mehr als der andere? Der als Spieler 1978 oder der als Trainer 2007?
Ist schwer vergleichbar. Ich habe eigentlich immer gesagt, als Spieler ist es schöner, intensiver, da bin ich mittendrin. Aber 2007 herrschte diese Begeisterung, das war auch ein Traum für mich, dass so etwas im Handball überhaupt möglich ist. Das Endspiel in Köln, direkt bei mir vor der Haustür, das war schon speziell. Mit der Mannschaft haben wir in Wiehl gewohnt. Der Plan war: Hier kennt uns niemand, hier wird kein Handball gespielt, hier haben wir unsere Ruhe. Dann ging der Hype los, die Leute haben das Hotel belagert. Da sagten die Jungs: So viel zum Thema Ruhe, Heiner. Aber es war auch toll. Schwarz-rot-goldene Fahnen auf den Autobahnbrücken - das war früher für Handballer unvorstellbar.
Noch einmal zurück zur Heimat: Schmerzt es, wenn Sie auf die Bundesligatabelle schauen und Gummersbach auf Rang 16 wiederfinden?
Ja, das schmerzt schon. Es schmerzt ja schon seit ein paar Jahren. Vor dieser Saison hatte ich gehofft, dass es mit dem Zittern und dem Abstiegskampf vorbei ist. Ich mache mir echt Sorgen, dass es diesmal nicht gut gehen wird. Der Verein knabbert noch immer an seinen Altlasten aus Zeiten, in denen eine Weltauswahl in Gummersbach gespielt hat. Aber langsam verstehen sie in Gummersbach auch, dass die Zeiten sich geändert haben. Dass man sich für die Erfolge der Vergangenheit nichts kaufen kann.