Amsterdam. Die Weltmeister Neuer, Hummels, Boateng, Kroos und Müller können die Nationalelf nicht mehr tragen. Größtes Problem ist der ehemalige Torjäger.
Es ist gerade die Zeit, in der man einer ruhmreichen Spielergeneration des deutschen Fußballs beim Niedergang zuschauen kann. Jerome Boateng, dessen Coolness und Kraft früher landauf, landab Gegner und Beobachter beeindruckte, ging zu Boden. Deutschland lag am Sonnabend kurz vor Abpfiff 0:1 zurück gegen die Niederlande. Es hätte jetzt Coolness und Kraft gebraucht, die Niederlage abzuwenden. Boateng aber machte Yoga.
Die Wade hatte den 30-Jährigen geschmerzt. Er dehnte sie nun wie bei der Yoga-Figur „herabschauender Hund“. Als Boateng Kopf und Körper wieder aufgerichtet hatte, sauste Memphis Depay am Verteidiger vorbei und erzielte das 0:2. Die körperliche Versehrtheit Boatengs ist mittlerweile landauf, landab bekannt. Von der Form der EM 2016, geschweige denn von der der WM 2014 hat er sich unerreichbar entfernt. Als wäre er der älteste 30-Jährige im modernen Fußball. Am Sonntag musste er verletzt aus dem deutschen Quartier abreisen.
Neuer: "Eine Mitschuld habe ich auf jeden Fall"
Obwohl Boateng gegen den niederländischen Jugendstil überfordert und ergraut wirkte, was man nach den Eindrücken beim FC Bayern zuletzt hätte erahnen können, hatte Bundestrainer Joachim Löw ihn nicht vom Feld genommen. „Es war für mich in diesem Spiel nur logisch, offensiv zu wechseln“, sagte der 58-Jährige. Das mag zutreffen. Aber dass es eben jenes Spiel werden würde, indem der Scheinriese Deutschland einer jungen Elftal hinterherhechelt, hatte sich Löw selbst zuzuschreiben. Immer noch setzte der Bundestrainer auf seine WM-Achse aus Boateng, Kapitän Manuel Neuer, Mats Hummels, Toni Kroos und Thomas Müller. Obwohl keiner in Form war. Obwohl die Leistungskurve seit Langem rückläufig ist. Obwohl man bei Boateng, Neuer und vor allem Müller zweifeln muss, ob sie jemals wieder richtig gut werden. Gegen Oranje war ein Achsenbruch im deutschen Team zu besichtigen, bis es in der Schlussphase mit 0:3 auseinander fiel.
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Die Achse, die diese Mannschaft tragen soll, ist von hinten (Neuer) bis vorn (Müller) instabil geworden. Neuer, einst ein Torwartgigant, ist zu einem gewöhnlichen Schlussmann geschrumpft, der Fehler macht wie vor dem 0:1, als er einen Eckball unterlief. „Eine Mitschuld habe ich da auf jeden Fall“, sagte Neuer, „aber wir verlieren auch zwei Kopfballduelle in der Mitte.“ Doch schon beim FC Bayern unterliefen ihm zuletzt Patzer. Vor Neuer spielen mit Hummels und Boateng zwei Verteidiger, die ihre Souveränität verloren haben – auf dem Platz (besonders Boateng) und daneben, wie die Medienkritik von Hummels bewies. Kroos bevorzugt mittlerweile nur noch Querpässe, als ob er nicht wüsste, dass dies dem Spiel jede Fantasie nimmt.
Neue deutsche Mittelmäßigkeit
Und dann wäre da noch Müller. Kein Spieler stand seit der WM 2010 mehr für eine neue Leichtigkeit beim DFB. Doch nun, im Alter von 29, gibt es niemanden, an dem die neue deutsche Mittelmäßigkeit besser abzulesen ist als am Münchner Angreifer. In seinen letzten sieben Spielen, fünf davon in der Startelf, blieb Müller ohne Torbeteiligung. Seit der WM 2014 hat er bis auf einen Treffer gegen Spanien im März lediglich gegen Durchschnittsteams getroffen wie Norwegen, Tschechien, Aserbaidschan oder Schottland. Müller scheint zu einem Spieler geworden zu sein, der nur dann gut spielt, wenn es das Restteam tut.
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Gegen die Niederlande hatte er in Halbzeit eins die Führung auf dem Fuß und scheiterte. „In der Vergangenheit hat er diese Chance häufig genutzt. Diesmal nicht. Das zeigt, dass viele Spieler noch ein angekratztes Selbstbewusstsein haben“, analysierte Löw. Er nahm Müller in der 57. Minute raus. Dass er nicht auf den jungen Julian Brandt stattdessen gesetzt hatte, begründete Löw so: „Thomas hat mir im Training einen sehr agilen, frischen Eindruck gemacht. Man hatte das Gefühl, er ist wieder der Müller, wie man ihn kannte.“ Aber vielleicht gibt es diesen Müller gar nicht mehr.
Gegen Weltmeister Frankreich am Dienstag (20.45 Uhr/ARD) muss Löw umdisponieren. Mit Brandt, Niklas Süle, Julian Draxler oder Leroy Sané stünden junge Alternative bereit. „Da müssen wir gewinnen“, sagte Neuer. Allein der Glaube daran fehlt.