Manchester. Ilkay Gündogan spricht über die Erdogan-Affäre, Özils Rücktritt, Rassismus und den Vorwurf der Grüppchenbildung während der WM.
Es sind die schwersten Monate seiner Karriere. Ilkay Gündogan stand vor, während und nach der desaströsen WM heftig in der Kritik, nachdem sich der 27 Jahre alte deutsche Nationalspieler und Mesut Özil mit dem türkischen Machthaber Recep Tayyip Erdogan fotografieren lassen hatten. Er wurde vom eigenen Publikum beim Testspiel gegen Saudi-Arabien in Leverkusen ausgepfiffen, von Politikern und in den sozialen Netzwerken beschimpft. Im Trainingslager der Nationalmannschaft hatte sich Gündogan – anders als Özil – einigen Medien gestellt. Die Kritik aber hielt an. Zwei Monate danach will der Mittelfeldspieler von Manchester City darüber erstmals öffentlich sprechen – mit unserer Redaktion.
Herr Gündogan, Mesut Özil ist nach der desaströsen WM und der Affäre um die Erdogan-Fotos aus der Nationalelf zurückgetreten. Sie hingegen haben angedeutet, weiter für Deutschland spielen zu wollen. Was hat Sie dazu bewogen?
Ilkay Gündogan: Mir ist es wichtig, mit 27 Jahren nicht aufgrund einer schwierigen Phase, die ich persönlich durchlaufen habe, alles hinzuwerfen. Ich habe in den letzten Jahren verletzungsbedingt viele schöne Momente mit der Nationalelf verpasst. Deshalb spüre ich den Drang, noch erfolgreich mit der Nationalelf sein zu wollen. Die WM war leider ein großer Misserfolg. Doch es geht für mich nicht allein um Wiedergutmachung: Ich bin nach wie vor stolz, für Deutschland aufzulaufen. Falls ich nominiert werden sollte, dann sehe ich keinen Grund, nicht weiterzumachen. Ich weiß auch, was ich dem DFB in meiner Karriere zu verdanken habe.
Haben Sie nie über einen Rücktritt nachgedacht?
Ilkay Gündogan: Es gab zwar keine Rücktrittsgedanken, aber es gab Zweifel nach der Sache mit den Fotos, ob es jemals wieder so werden kann wie früher. Wenn man von vielen so attackiert wird, von den eigenen Fans ausgepfiffen und von einem deutschen Politiker beleidigt wird, dann macht man sich Gedanken. Aber ich will nicht davonlaufen. Ich will mich der Situation stellen. Das habe ich damals in Leverkusen gemacht, als es abzusehen war, dass es Pfiffe gegen mich geben wird. Und das war extrem schwer. Ich werde es bis zum Ende meines Lebens nicht vergessen: Ich musste mich nach dem Spiel in der Kabine erst einmal auf der Toilette einsperren und zehn Minuten durchatmen. Ich war sauer, enttäuscht und traurig. Aber ich weiß, dass man im Leben schwierige Momente durchstehen muss. Dem wollte ich mich damals stellen, und das will ich auch in Zukunft. Wenn ich jetzt nominiert werde, dann bin ich bereit.
Es hat also noch kein Gespräch mit Bundestrainer Joachim Löw seit der WM gegeben?
Ilkay Gündogan: Nein. Es gab aber kurz nach der WM einen SMS-Austausch zwischen uns beiden. Das war wie immer freundlich und wie es sein sollte.
Haben Sie sich psychologische Hilfe gesucht, um mit der Situation umzugehen?
Ilkay Gündogan: Ich hatte ein kurzes Gespräch mit dem Teampsychologen der Nationalelf. Ich wollte schauen, was er mir mitgeben kann. Aber ich glaube eigentlich nicht, dass mir dabei irgendjemand helfen kann. Es wird irgendwann einen Moment geben, in dem sich in meinem Kopf der Knoten löst. Das kann ein Tor sein in der Nationalelf oder ein besonderer Sieg. Den Moment gab es noch nicht. Aber er wird kommen.
Wie bewerten Sie den Rücktritt von Mesut Özil – sportlich und persönlich?
Ilkay Gündogan: Sportlich gesehen finde ich Mesuts Rücktritt sehr schade. Er hat sehr viel für den deutschen Fußball getan. Es ist ein Verlust für die Mannschaft. Mesut hat auch sehr viel für mich persönlich getan. Er war einer der Gründe, warum ich für Deutschland spielen wollte. Er hat den Weg für mich geebnet. Ich hätte mir deshalb gewünscht, dass er einen besseren, verdienteren Abschied bekommt. Man muss jedoch auch sagen, dass es Mesuts Entscheidung war, so zu gehen – mit allen Konsequenzen. Ich hätte es anders gemacht – weil ich von der Persönlichkeit anders bin. Ich wollte mich damals auch sofort zu dem Thema äußern und das nicht auf mir sitzen lassen. Deshalb war es auch meine Idee, den Austausch mit unserem Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier zu suchen.
Özil hat schwere Rassismusvorwürfe erhoben. Hat er recht: Ging es bei der Erdogan-Affäre um Sie beide auch um Rassismus?
Ilkay Gündogan: Sagen Sie es mir! Ist es kein Rassismus, wenn ein deutscher Politiker auf Facebook schreibt: „Die deutsche Fußball-Nationalelf: 25 Deutsche und zwei Ziegenficker“? So etwas muss man als Rassismus benennen. Trotzdem bedeutet das nicht, dass alle Menschen in Deutschland Rassisten sind – überhaupt nicht. Ich habe mein Leben lang fast ausschließlich gute Erfahrungen in Deutschland gemacht. Das will ich hier ganz klar sagen. Aber es gibt Leute, die das entstandene Foto für sich politisch genutzt haben. Und in diesem Zusammenhang wurde dann auch teilweise die Grenze zum Rassismus überschritten.
Hätten Sie sich vom DFB mehr Unterstützung gewünscht? So hat es Özil angeprangert.
Ilkay Gündogan: Ich glaube schon, dass man mit der Situation besser hätte umgehen können. Im Trainingslager sind Mesut und ich zu Oliver Bierhoff gegangen. Ihn schätze ich sehr, und er stand immer hinter mir. Wir haben ihm gesagt, dass wir jederzeit gesprächsbereit sind, sollte es Fragen oder Redebedarf innerhalb der Mannschaft oder bei den Betreuern geben. Wir haben angeboten, uns mit jedem, der das im Team will, über die Thematik insgesamt zu unterhalten. Oliver Bierhoff hat dieses Angebot in einer Mannschaftssitzung auch vorgetragen. Es gab dann vereinzelt beim Essen auch mal Fragen von Spielern, und wir haben darüber gesprochen. Innerhalb der Mannschaft, glaube ich deshalb, hätte man nicht mehr machen können. Dass sich nicht jeder von den Spielern und Funktionären öffentlich vor uns gestellt hat, kann ich verstehen. Jeder hatte auch Angst, etwas Falsches zu sagen. Ich habe das nie verlangt. Dass wir beide mit zur WM gefahren sind, zeigt mir aber, dass die Mannschaft hinter uns stand. Der Mannschaftsrat hätte das sonst sicher angesprochen.
In einem Bericht des „Spiegel“ wird nun behauptet, dass es innerhalb der Mannschaft sehr wohl eine Grüppchenbildung gegeben habe. Dass sich die Spieler mit Migrationshintergrund selbst scherzhaft „Kanaken“ nannten. Ist da etwas dran?
Ilkay Gündogan: Natürlich gab es hier oder da mal einige Witze über gewisse Instagram Postings. Das ist aber doch völlig normal, dass man sich hier oder da mal ein bisschen im positiven Sinne aufzieht. Das war aber jederzeit immer nur als Spaß zu verstehen und hatte definitiv auch nichts mit Rassismus zu tun! Bei der WM 2014 war es überall „Die Mannschaft“ mit 23 allerbesten Kumpels und jetzt nach einer enttäuschenden WM 2018 sprechen alle von zerstrittenen Grüppchenbildungen, obwohl es zum Großteil dieselben Spieler und Charaktere waren. Das wird von außen nun sehr übertrieben dargestellt!
Am Mittwoch wird Löw seine WM-Analyse vorstellen. Was muss sich im deutschen Fußball ändern?
Ilkay Gündogan: Zuallererst brauchen wir jetzt etwas Ruhe. Wir haben uns mit ganz vielen Dingen in den letzten Monaten beschäftigt, die nichts mit Fußball zu tun hatten: Ob es das Thema Mesut und ich war, oder die Standortwahl unseres WM-Quartiers, oder ob zu lange Playstation gespielt wurde. Wir müssen uns wieder auf den Sport konzentrieren. Und dann glaube ich, dass Jogi Löw den richtigen Weg finden wird und wir in Deutschland das Potenzial haben, wieder erfolgreich zu sein. Die WM hat nicht unbedingt gezeigt, dass uns alle anderen Nationen extrem weit überlegen sind, auch wenn wir sportlich gescheitert sind.
Das klingt so, als wären Sie persönlich froh darüber, dass Löw weitermacht.
Ilkay Gündogan: Ich bin nach wie vor ein sehr großer Fan von Jogi Löw – nicht nur, was das Sportliche angeht. Das betrifft auch seinen Charakter, seine Führungsqualitäten und seine Menschlichkeit. Ich kann mir als Nationaltrainer momentan keinen Besseren vorstellen als ihn.
Löws Führungsstil wurde nach der WM vom Ehrenspielführer Philipp Lahm kritisiert. Das Kollegiale sei nicht mehr zeitgemäß, denn die neue Spielergeneration sei heute egoistisch und habe nicht mehr das große Ganze im Blick. Hat er recht?
Ilkay Gündogan: Ich muss Philipp widersprechen. Alle Spieler, die ich beim DFB kennengelernt habe, haben keinen egoistischen Eindruck auf mich gemacht. Außerdem waren jetzt doch sehr viele Spieler in Russland dabei, mit denen Deutschland 2014 Weltmeister geworden ist. Es gibt für diese These keine Belege.
Es heißt auch, dass Deutschland die Spezialisten fehlen würden. Keine Eins-gegen-Eins-Spieler mehr, keine Individualisten. Dass Fehler in der Nachwuchsarbeit gemacht wurden.
Ilkay Gündogan: Dadurch, dass wir bei der WM so kläglich gescheitert sind, werden jetzt viele Dinge schlecht gemacht, die eigentlich gar nicht so schlecht sind. Natürlich haben wir Eins-gegen-Eins-Spieler: Julian Draxler, Timo Werner, Leroy Sané. Auch Thomas Müller oder Marco Reus machen den Unterschied aus. Wir sollten jetzt einen klaren Kopf bewahren und die Dinge richtig bewerten.
Trotz der schwierigen Monate zuletzt hat die neue Saison für Sie persönlich in England mit Manchester City positiv begonnen. Zwei Siege, ein Remis, immer standen Sie in der Startelf.
Ilkay Gündogan: Vielleicht tut mir auch der Abstand gut. Vielleicht wäre es schwieriger, wenn ich noch in der Bundesliga spielen würde. Ich genieße es, bei Manchester City zu spielen. Ich bin im Moment zufrieden und auf einem guten Weg, wieder in Bestform zu kommen. Die Verantwortlichen des Klubs standen in der schwierigen Phase jederzeit hinter mir und ich hatte vollkommene Rückendeckung. So etwas vergesse ich auch nicht.
Haben Sie mal mit Ihrem Trainer Pep Guardiola über die Erdogan-Affäre gesprochen?
Ilkay Gündogan: Ja, er hat mich in der Phase angerufen. Pep wollte wissen, was da eigentlich los ist. Ich habe versucht, es ihm zu erklären. Und dann war es erledigt. Auch ein, zwei Spieler aus der Mannschaft haben mich angesprochen, aber ein großes Thema war es nicht.
Im letzten Jahr haben Sie mit Manchester City zwar die Liga dominiert, aber sind im Champions-League-Viertelfinale an Liverpool gescheitert. Muss es jetzt für Ihren Klub um den Titel in der Königsklasse gehen?
Ilkay Gündogan: Ja, ich träume vom Champions-League-Titel mit Manchester City und einem Titel mit Deutschland. In Manchester hatten wir schon letzte Saison das Gefühl, dass wir reif dafür sind. Es hat nicht gereicht. In diesem Jahr hat sich an diesem Gefühl nichts verändert. Ich glaube, dass wir sogar ein bisschen reifer sind. Wir haben das Potenzial, Champions-League-Sieger zu werden.
Sie spielen im Klub mit Leroy Sané zusammen. Hat ihn die Nichtberücksichtigung bei der WM zurückgeworfen?
Ilkay Gündogan: Ich glaube nicht, dass es ihn zurückwirft. Ich weiß, wie enttäuscht er war. Dass er nicht bei der WM dabei war, war ein Schock auch für mich. Er hatte eine fantastische Saison gespielt, wurde zum besten Nachwuchsspieler in England gewählt. Das ist etwas sehr Besonderes. Wichtig ist jetzt, dass er sich nicht beirren lässt und seine Leistung bestätigt. Der Anfang der Saison war nicht so leicht für ihn, er wurde immer nur eingewechselt und läuft gerade ein bisschen seinem Selbstvertrauen hinterher. Aber wenn er das wiederfindet, wird er in Manchester und der Nationalelf bald eine wichtige Rolle einnehmen.
Am 6. September findet das erste Länderspiel nach der WM statt – gegen Frankreich in München. Wenn Sie dabei sind, was glauben Sie, wird Sie dort erwarten?
Ilkay Gündogan: Ich hoffe, dass ich mit offenen Armen empfangen werde – zuallererst von meinen Mitspielern und den Funktionären im DFB. Und dann hoffe ich, dass es im Stadion keine Pfiffe gegen mich geben wird. Wenn doch, dann muss ich mich dem stellen. Dann ist das eben meine Reifeprüfung. Ich kann aber versprechen, dass ich mein Bestes geben werde.