Sotschi. Am Wochenende starten die Top-Teams Brasilien und Argentinien ins WM-Turnier - mit ganz unterschiedlichen Vorzeichen und Stimmungen.
Lionel Messi schreibt seit Tagen eine Serie offener Briefe, die in der prestigereichen Zeitung „La Nación“ veröffentlicht werden. Der Name des Blattes könnte passender nicht sein, denn an die Nation sind die Einblicke aus dem Seelenleben gerichtet. „Ich liebe meine Land, meine Leute und dieses Trikot“, hieß es etwa gestern. So ein Pathos beim sonst eher öffentlichkeitsscheuen Messi – das ist natürlich überraschend. Aber auch ein Zeichen, dass Pathos wohl die einzige Chance ist.
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Mit der Substanz sieht es wesentlich düsterer aus bei Argentinien vor dem heutigen WM-Auftakt gegen Island. Kein anderes Topteam kam mit so vielen Zweifeln nach Russland, wo die Finalisten von 2014 vor den Toren Moskaus in Bronnizy logieren. Mit drei Trainern unter drei Präsidenten wurde von 57 berufenen Spielern nur mit Ach und Krach am letzten Spieltag die Qualifikation geschafft.
Es folgte ein desaströses 1:6 in Spanien (ohne Messi), in einem Testkick, den der aktuelle Coach Jorge Sampaoli nie spielen wollte. So wie er und die Mannschaft dann auch das politisch aufgeladene Freundschaftsmatch in Israel nicht spielen wollten. Beides Mal standen monetäre Erwägungen des Verbandes im Hintergrund, die Partie in Jerusalem wurde nach massiven Drohungen gegen Messi trotzdem abgesagt. Sie hätte die einzig halbwegs ernsthafte Bewährungsprobe seit dem Spanien-Desaster werden sollen.
Brasilien schlug sogar eigene Rekorde
Wie groß ist doch da der Unterschied zum anderen südamerikanischen Evergreen. Nach dem epochalen 1:7-Desaster gegen Deutschland 2014 war ja eigentlich Brasilien als Patient in diesen WM-Zyklus gegangen, und anfangs spielte es diesen Part auch treu weiter. Doch im Sommer 2016 übernahm mit Tite ein neuer Nationaltrainer, und seither schlug Brasilien sogar eigene Rekorde.
Es gewann neun Qualifikationsspiele am Stück und avancierte vom Tabellensechsten der Südamerikagruppe zur ersten Mannschaft, die sich überhaupt für die WM qualifizierte. 17 von 21 Spielen unter Tite wurden gewonnen, darunter alle Testspiele dieses Jahres, in Russland (3:0), in Deutschland (1:0) und nun auch in der unmittelbaren WM-Vorbereitung gegen Kroatien (2:0) und bei den Österreichern (3:0). Wettbüros wie Fachwelt führen die Seleção, zumal angesichts der Debatten bei Deutschland und Spanien, als absolute Topfavoritin.
Tite, 57, hat eine so grundsolide Struktur geschaffen, dass jeder Vergleich mit dem 1:7 fast wirkt wie einer zwischen Elektroauto und Pferdekutsche. Sein Brasilien spielt in fast immer gleicher Aufstellung, und es wird nicht nervös, wenn es mal länger 0:0 steht. Scheinbar behäbig kombinierte es hin und her, um dann bei jeder Chance auf eine Überzahlsituation sofort umzuschalten. Mit Offensivspielern wie Neymar, Philippe Coutinho, Gabriel Jesus oder Willian geht das dann meistens viel zu schnell für die Gegner.
Neymar glänzte in den letzten Tests
Brasilien zeigt Pragmatismus mit ausgewählten Momenten der Brillanz, wie zuletzt bei Neymars spektakulären Toren gegen Kroatien und Österreich. Eine Mischung aus Organisation und individuellem Talent, und wenn es die auf den Platz bekommt, dann war es in seiner Geschichte immer nur sehr schwer zu schlagen.
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Am Freitag war im brasilianischen Paradies unter Palmen am russischen Schwarzmeerort Sotschi alles verriegelt. Nicht mal die Viertelstunde öffentliches Training, die den Journalisten normalerweise vorgesetzt wird, gab es zwei Tage vor dem Auftakt gegen die Schweiz zu sehen. Keine Pressekonferenz, nicht mal der dritte Torwart. Volle Konzentration auf den Job. Der Verband hält sich zurück, der Hedonismus auch. Selbst von Neymar kommen keine Sprüche, keine provokanten Posts, keine Wechselflirts. Die Familien durften ans Teamquartier mitreisen und ein benachbartes Hotel beziehen, und an freien Tagen, das war noch die klatschträchtigste Nachricht, ist Sex erlaubt. Dafür dürfen Mobiltelefone nicht mit ins Bett. Ohne sie wegzudämmern, sorgt für bessere Erholung, das hat Tite von einem Schlafexperten gelernt.
Wundertüte Argentinien: Messi will es wissen
Früher wäre so eine Ruhe undenkbar gewesen, früher produzierte Brasilien immer auch die Schlagzeilen neben dem Platz. Unvergessen der „Karneval in Weggis“ am Luzerner See, als die Seleção vor eigens aufgebauten Tribünen das Publikum mit Showfußball unterhielt, ohne einen Gedanken an die anstehende WM 2006 in Deutschland zu verschwenden. Unvergessen natürlich auch und vor allem 2014: als die Mannschaft von Luiz Felipe Scolari das Heimturnier bis zum krachenden Desaster gegen Deutschland als patriotisches Melodram voller Schweiß und Tränen inszenierte.
Wie jetzt Messi und seine Argentinier? Bis zuletzt feilte Sampaoli am idealen System und Begleitpersonal für den Superstar. Ins Turnier startet der Vize-Weltmeister als große Wundertüte und mit nur einer Gewissheit: Messi will es wissen. Immerhin.