Essen. . Patrik Kühnen schätzt die Chancen der deutschen Tennisspieler um Angelique Kerber und Alexander Zverev ein. Ein Redaktionsbesuch des langjährigen Davis-Cup-Teamchefs.
Wenn Patrik Kühnen an Tennis denkt, und das tut er oft, dann hat er häufig Bilder von Steffi Graf und Boris Becker vor Augen. Von den großen deutschen Erfolgen auf raspelkurzem Rasen. Mit royalem Beistand und Erdbeeren. Diese berühmten Wimbledon-Erdbeeren. „Es ist das bedeutendste Turnier der Welt“, sagt Kühnen. Er selbst war Profi zu der Zeit, als das deutsche Tennis in voller Blüte stand. Später war er fast zehn Jahre Davis-Cup-Teamchef. Der 50-Jährige kennt die deutschen Spieler – und er kann ihre Chancen bei den am Montag beginnenden Championships (27. Juni bis 10. Juli/Sky) einschätzen. Das tut er, bei einem Besuch in unserer Redaktion.
Die Herren
Florian Mayer: Der Überraschungsmann. Mit einem Paukenschlag hat sich der 32-jährige Bayreuther vor einer Woche zurückgemeldet. Nach monatelanger Verletzungspause hat er aus dem Nichts im deutschen Finale des ATP-Turniers in Halle den hoch gehandelten Alexander Zverev besiegt. „Auf Rasen ist er ein sehr starker Gegner“, sagt Patrik Kühnen. Allerdings hat Mayer ein hartes Los erwischt: Dominic Thiem, Österreicher, Aufsteiger, Weltranglistenachter.
Philipp Kohlschreiber: Wimbledon liegt ihm. Hier kam der 32-jährige Routinier 2012 bis ins Viertelfinale. „Er ist ein starker Allrounder.“ Aber sein Körper lässt nicht immer das zu, was der Kopf will: Vor zwei Wochen hat er sich beim Turnier in Stuttgart an der Hüfte verletzt, ein paar Tage später musste er in Halle aufgeben. Gegen den Franzosen Pierre-Hugues Herbert gilt der Deutsche in Runde eins als Favorit.
Alexander Zverev: Mann der Superlative. Jüngster Spieler der Top 50, Aufsteiger des Jahres 2015, Ausnahmetalent. Auf den zarten Schultern des 19-jährigen Hamburgers lastet das Begehren einer ganzen Nation, endlich wieder einen Superstar hervorzubringen. Er ist gesetzt (als 24.), hat keine Angst vor großen Namen und in Halle Roger Federer geschlagen. „Es ist klasse zu sehen, wie er sich entwickelt“, sagt Patrik Kühnen. „Er hat einen großen Willen, ganz nach vorne zu kommen. Ich traue ihm auch Grand-Slam-Siege zu.“ Schon jetzt? „Langsam, langsam.“
Die Damen
Sabine Lisicki: Das Damenfeld bewertet Patrik Kühnen als „recht offen“. Daraus könnte sich eine Chance zur Rehabilitation für die 26-jährige Lisicki ergeben, nach Monaten voller sportlicher Enttäuschungen und nach privaten Aufräumarbeiten. Sie ist in der Weltrangliste bis auf Rang 81 durchgereicht worden. „Aber nun kehrt sie an den Ort ihres größten Erfolgs zurück. Das motiviert“, sagt Kühnen. Vor drei Jahren schaffte es Lisicki in Wimbledon bis ins Finale (1:6, 4:6 gegen Marion Bartoli).
Angelique Kerber: An ihrem Beispiel ist abzulesen, wie erfolgshungrig das deutsche Tennispublikum ist. Und wie schnell es gehen kann, dass eine Begeisterung, die nach der Ära Becker, Graf und Stich verlernt wurde, zart wieder entflammt. „Bei Kerbers Australien-Sieg im Januar saß das deutsche Publikum begeistert vor dem Fernseher. Wie früher“, sagt Patrik Kühnen, der aber auch betont: „Für einen neuen Boom ist Nachhaltigkeit wichtig.“ Angelique Kerber ist an Nummer vier gesetzt – „das eröffnet ihr gute Chancen“.
Insgesamt haben es zehn deutsche Damen und sechs Herren ins Hauptfeld geschafft. Gesetzt ist neben Kerber und Zverev auch Andrea Petkovic (Nummer 32).
In diesem Jahr wird übrigens auf jeden Fall ein Deutscher im Finale mit dabei sein: Patrik Kühnen. Er begleitet als Experte die zwei Turnierwochen für den Fernsehsender Sky, der 350 Stunden Tennis aus Wimbledon überträgt. Kühnen hat seine Profi-Karriere 1998 beendet. In Erinnerung geblieben sind neben seinem Viertelfinaleinzug in Wimbledon 1988 vor allem Davis-Cup-Schlachten an der Seite von Boris Becker und Michael Stich.