Nach dem 0:0 gegen Polen wurde heftig über das Team und den Bundestrainer hergezogen. Davon will er sich aber nicht aus der Ruhe bringen lassen
Bundestrainer Joachim Löw hat spürbar genervt, aber mit demonstrativer Gelassenheit auf die Kritik nach dem 0:0 gegen Polen reagiert. "Überrascht bin ich über gar nix mehr", sagte der Bundestrainer am Samstag bei einer Pressekonferenz: "Die Dinge wiederholen sich so sehr und gehen an mir vorbei. Wenn da irgendjemand jetzt was sagt, dann..."
Den letzten Satz beendete er nicht. "Irgendjemand" könnte indes zum Beispiel Ex-Kapitän Michael Ballack sein, der dem Team "fehlenden Charakter und Persönlichkeit" attestiert hatte. Auch zahlreiche Medien aus dem In- und Ausland hatten den Weltmeister nach dem schwachen zweiten EM-Auftritt gegen Polen teilweise heftig kritisiert.
"Heute habe ich etwas gelesen von Führungsspieler-Diskussion. Das zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht", äußerte Löw am Samstagmorgen und lächelte tatsächlich: "2014 hatten wir die Diskussion schon mal. Dann wurden wir Weltmeister und alle waren die großartigen Leader. Jetzt spielen wir einmal 0:0, und die Diskussion kommt wieder. Ganz ehrlich, damit ist alles gesagt."
Er persönlich, "wäre ich ein Außenstehender, würde ganz ruhig sein. Weil viele Spiele großartige Führungsqualitäten erfüllen. Sie denken mit, sie kommen zum Trainer, fragen mir manchmal ein Loch in den Bauch. Diese Mitarbeit im Spielerrat ist sagenhaft gut. Die Spieler sind mündig, kritisch, sie hinterfragen Dinge. Und sie haben Großartiges geleistet."
Löw lobte zugleich die Youngster Joshua Kimmich, Julian Weigl und Leroy Sané, macht ihnen aber wenig Hoffnung für einen Einsatz bei der EM. "Sie bringen von den Voraussetzungen alles mit, sie machen das gut im Training. Aber man spürt schon: Es ist die Nationalmannschaft", sagte der Bundestrainer am Samstag: "Sie mussten sich an Tempo und Qualität erst gewöhnen."
Auf die Frage, wann er sie möglicherweise einsetze, ließ er durchblicken: "Man muss den richtigen Zeitpunkt finden. Ein Spiel, wo es um so viel geht, ist eine besondere Drucksituation für die jungen Spieler." Einen Einsatz könnten sie also wohl allenfalls bei relativ deutlichen Spielständen bekommen. Beim 2:0 gegen die Ukraine war laut Löw "aber alles in Ordnung". Beim 0:0 gegen Polen "musste ich im Mittelfeld und hinten nichts ändern. Da gab es keinen Grund, alles über den Haufen zu schmeißen."
Am ehesten Hoffnung auf einen Einsatz darf sich wohl der Münchner Kimmich machen, über den Löw sagte: "Ich hätte auf keiner Position Bedenken, ihn zu bringen."
Ballack: Man darf nicht alles schönreden
Zuvor hatte der frühere Nationalmannschafts-Kapitän Michael Ballack seine Kritik an "Charakter und Persönlichkeit" seiner Nachfolge-Generation konkretisiert. Das 0:0 gegen Polen sei "ein Weckruf zur rechten Zeit", schrieb Ballack in seiner Express-Kolumne: "Da darf man jetzt nicht alles schönreden!"
Grundsätzlich findet der 39-Jährige: "Es ist gut, dass Deutschland nun darüber diskutiert, ob die Mannschaft den Charakter besitzt, Spiele auch mal hässlich zu gewinnen." Das Spiel sei "nicht schlecht" gewesen. Der Weltmeister sei aber "nie zu richtig Torchancen gekommen". Und "irgendwann muss eine Mannschaft mit unserer Qualität das spüren. Dann muss sie in der Lage sein, ihr Spiel zu ändern, um den Gegner zu knacken. Sie muss merken: So funktioniert es heute nicht, wir beißen uns mit reinem Kombinationsfußball die Zähne aus. Wir müssen anders denken, anders spielen. Diesen Charakterzug verlange ich von Top-Spielern!"
Dann käme man "zur entscheiden Frage: Haben wir diese Charaktere in der Mannschaft, mit anderen Mitteln zu agieren? Genau diese Mentalität, eine Spielveränderung erzwingen zu wollen, hat mir gegen die Polen gefehlt".
Es habe ihn "gewundert", so der einstige Capitano, dass das Team nach der Einwechslung von Mario Gomez "genau mit den gleichen Mitteln weitergespielt hat. Dadurch hing Gomez total in der Luft. Genau das muss man jetzt auch einmal ansprechen. Denn: Wir diskutieren hier auf hohem Niveau, denn wir reden über Kleinigkeiten. Aber wir sprechen über eine Mannschaft, die den Titel gewinnen will".
Das Remis gegen Polen werfe "uns überhaupt nicht aus der Bahn. Die Nordiren sind fußballerisch zu schwach, um uns vor große Probleme zu stellen. Löw wird auch gegen sie einen Matchplan haben. Ich bin davon überzeugt, dass wir als Gruppenerster ins Achtelfinale kommen."
In jedem Fall würde er über Einsatz von Bastian Schweinsteiger nachdenken: "Mit seiner spielerischen Klasse könnte er der deutschen Mannschaft neue Impulse geben." (sid)