Essen. Muhammad Ali lockte in den 70er-Jahren ganze Familien nachts vor die Fernsehschirme. Weil er eben nicht nur Boxer war. Sondern auch Showman, Clown – und Kämpfer für Gerechtigkeit.

Es gibt Nachrichten, die du nicht verdrängen kannst. Nachrichten, die dich zum Innehalten auffordern; die Bilder aus dem Archiv deiner Seele hervorkramen, und, ja, auch Emotionen.

Muhammad Ali ist tot.

Unausgeschlafen hockten wir Halbwüchsigen in den 70er-Jahren in der Schulbank, und keiner der Herren Studienräte wunderte sich darüber. Denen erging es ja nicht anders als uns und unseren Vätern, auch die Lehrkräfte hatten sich selbst den Schlaf geraubt. Mitten in der Nacht rappelten in Deutschland Millionen von Weckern, die Stars boxten damals noch unter der Woche: Wenn Ali in den Ring stieg und steppte, war Nachtruhe für Sportbegeisterte keine ernstzunehmende Alternative. Das durfte man nicht verpassen, da saß man vor dem Fernseher. Egal um welche Uhrzeit.

Ein ganz großes Vater-Sohn-Ding war das für uns Jugendliche aus der Generation Wählscheibe. Es ließ sich ja auch leidenschaftlich diskutieren, viele schwankten damals noch zwischen Verachtung und Bewunderung. Wer Alis Großmäuligkeit als Arroganz interpretierte, wer seine eitle Selbstinszenierung nicht als Teil einer grandiosen Show begriff, der wünschte ihn auch mal zu Boden. In jenen Jahren, in denen brave Männer in Anzügen wie Peter Alexander, Wim Thoelke und Karl-Heinz Köpcke das TV-Programm dominierten und die Hosenträger-Spießigkeit von TV-Ekel Alfred Tetzlaff den Zeitgeist spiegelte, wirkte es schon irritierend, wenn einer laut ins Mikro brüllte: „Ich bin das Größte und Schönste, was je gelebt hat!“ Oder: „Es ist schwierig, bescheiden zu sein, wenn man so großartig ist wie ich.“

Spannend konnte der Vater über Alis Aufstieg erzählen, dabei ignorierte er beharrlich dessen selbstgewählten Namenswechsel. Als Cassius Clay hatte der Boxer sich eingeprägt, seit er 1964 den amtierenden Weltmeister Sonny Liston mit gewagtem PR-Getrommel herausgefordert hatte. Es gab kein Video, das der Vater hätte zeigen können, Worte mussten reichen. Wir lachten gemeinsam darüber, dass Ali Liston einen „dicken hässlichen Bären“ genannt hatte, den er „nach dem Kampf im Zoo abgeben“ wollte. Und dass er damit sein Ziel erreicht hatte: Liston hatte sich vor lauter Wut nicht mehr unter Kon­trolle.

Viel Stoff für Diskussionen an den Stammtischen

Der neue Champion perfektionierte seine Taktik der psychologischen Beeinflussung. Er verspottete seine Gegner. Und er nutzte seine Popularität als Kämpfer für Gerechtigkeit. Vater erzählte von Sonntagmorgen-Stammtischen, an denen es nur ein Thema gab: Cassius Clay, der nicht mehr Cassius Clay sein wollte; der um die Bürgerrechte der Schwarzen stritt, der sich den Black Muslims anschloss, sich zum Islam bekannte und sich Muhammad Ali nannte, weil er „seinen Sklavennamen ablegen“ wollte. Und der sich weigerte, in den Vietnamkrieg zu ziehen.

Der Boxverband erkannte ihm deshalb den Weltmeistertitel ab und sperrte ihn für drei Jahre. Vater, der ihn skeptisch beäugte, aber auch faszinierend fand, vermisste ihn.

Alis beschwerliche Rückkehr sahen wir erstmals gemeinsam. 1971 ließ sich Weltmeister Joe Frazier nicht provozieren, Ali kassierte in New York seine erste Niederlage. Wir waren völlig baff. Er auf den Brettern? War der Mythos besiegt?

Nein, es wurden weiterhin die Wecker gestellt. Unvergessen: Der „Rumble in the Jungle“ 1974 gegen George Foreman in Zaire; und der „Thrilla in Manila“ 1975, der dritte Kampf gegen Joe Frazier, eine lebensgefährliche Schlacht: Ali siegte – und kollabierte danach.

Das traurige Ende: Der Karriere folgte die Krankheit

Am 2. Oktober 1980 war es dann nur noch bedrückend, Muhammad Ali zuzuschauen. Larry Holmes hob die Schultern an und signalisierte Zwiespalt: Was soll ich nur machen? Holmes schlug auf sein Idol ein, er demontierte ein Denkmal.

Kopfschütteln vor dem Fernseher. Warum tut sich das Ali mit 38 Jahren an? Warum tut er uns das an?

1984 erkrankte Ali an Parkinson, Neurologen halten einen Zusammenhang mit der zu langen Box-Karriere zumindest für denkbar.

Mit zitternder Hand entzündete Muhammad Ali 1996 in Atlanta das Olympische Feuer. Ein berührender, aber auch verstörender Moment. Denn wir hatten Mitleid.

Mitleid mit dem Größten.