Duisburg. Nach der Chaosfahrt eines Lkw-Fahrers: Wie geht es denen, die unsere Pakete quer durch Europa fahren? Wir haben sie in Duisburg getroffen

„Wir können von Glück reden, dass wir keine Toten zu beklagen haben“ wird NRW-Innenminister Herbert Reul später sagen, als das Ausmaß des Unglücks deutlich geworden ist. 19 Menschen wurden verletzt, mehrere schwer, einer davon lebensgefährlich. Mehr als 50 Fahrzeuge waren in die Crashs verwickelt, die ein 30 Jahre alter LKW-Fahrer vor zweieinhalb Wochen ausgelöst hatte. 60 Kilometer fuhr der Pole auf der A46 und der A1 wie von Sinnen, rammte Autos, ließ sich auch durch die Polizei nicht stoppen. Knapp zwei Millionen Euro Schaden sind entstanden. Kurz darauf wird deutlich: Der LKW-Fahrer ist wohl psychisch krank. Er könne sich nicht an die Fahrt erinnern, sagt er einem Haftrichter.

Schwere Unfälle mit Lastwagen kommen bei uns in NRW immer wieder vor. Oft sind psychische Probleme, Alkohol oder schlicht Übermüdung im Spiel. Wie geht es den Menschen, die gerade unsere Weihnachtspakete von A nach B transportieren, teils quer durch Europa, monatelang auf Achse, weg von der Familie?

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Diese Recherche ist zusammen mit Radio K.W., Radio Mülheim, Radio Oberhausen und Radio Emscher Lippe entstanden. Hier erhalten Sie weitere Einblicke in das Leben von Fernfahrern.

Wir recherchieren am Duisburger Hafen, dem größten Binnenhafen der Welt. Im Logport haben viele Industriefirmen und Logistiker ihren Sitz. Container stapeln sich, es herrscht reger LKW-Verkehr. Am Sonntag ist das anders. Der Duisburger Hafen atmet durch. Und mit ihm auch Aleksandr. Aleksandr sitzt in seinem LKW-Hänger auf einem weißen Plastik-Hocker. Es sind vier Grad, der Himmel ist milchig-grau. Der dampfende, brodelnde Gulasch spendet etwas Wärme an diesem Sonntag. Der Topf steht auf einem Gaskocher, der wiederum in einem abgegriffenen, feuchten Karton steht. Davor eine Flasche Öl, eine Flasche Handseife. Eine Metallschüssel mit einem Löffel. Ein kleiner weißer Plastik-Tisch. Karotten, Salat und eine Gurke liegen einen Meter weiter auf der Ladefläche. Aleksandrs Hänger ist an diesem Tag Küche und Wohnzimmer in einem.

Aleksandr ist seit zwei Monaten ununterbrochen unterwegs

„Die Menschen verstehen uns LKW-Fahrer nicht. Ich brauche eine Dusche, ich brauche ein normales Bett, ich brauche etwas Normales zu essen.“ Für Aleksandr, 30 Jahre alt, aus Nordmazedonien, ist das hier normal: Seit zwei Monaten ist er ununterbrochen unterwegs, die Wochenenden verbringt er in seinem LKW – in Industriegebieten, auf Park- und Rastplätzen. Dieses Wochenende verbringt er auf dem Seitenstreifen einer Straße am Logport. Zu einer Toilette und Dusche muss er einige hundert Meter laufen, seine „Freizeit“ spielt sich im Hänger ab. So wie die „Freizeit“ hunderter Fahrer, fast alle aus Osteuropa, die hier jedes Wochenende stranden.

Geht es nach der Politik, darf es Szenen wie diese am Duisburger Hafen eigentlich nicht mehr geben. Seit 2017 gibt es in Deutschland ein „Kabinenschlafverbot“ für LKW-Fahrer. Heißt: Die Fahrer sollen ihre wöchentliche Ruhezeit etwa in einem Hostel, Hotel oder Apartment verbringen – und nicht in der Fahrerkabine. Drei Jahre später wurde sogar auf EU-Ebene festgelegt: Die wöchentliche Ruhezeit, 45 Stunden, darf nicht im LKW verbracht werden. Für die tägliche Übernachtung unter der Woche gilt das Gesetz nicht.

Dazu gibt es weitere Ausnahmen, zum Beispiel wenn am Wochenende nur verkürzt Pause gemacht wird. Im Grundsatz aber ist das Gesetz klar: Wer gegen das Kabinenschlafverbot verstößt, riskiert hohe Bußgelder. Sowohl der Fahrer selbst als auch der Logistikunternehmer können bestraft werden. Allerdings gehören Bilder von auf Rastplätzen oder in Industriegebieten campierenden Fernfahrern nach wie vor zum Alltag an den Wochenenden. Warum?

3600 Verstöße gegen das Kabinenschlafverbot

Mit dafür verantwortlich, dass die Einhaltung des Kabinenschlafverbots kontrolliert wird, ist das Bundesamt für Logistik und Mobilität (BALM). Man sei „bundesweit und rund um die Uhr im Einsatz“, schreibt uns ein Sprecher. Auch regelmäßige Schwerpunktkontrollen gehörten dazu. Im vergangenen Jahr hat das BALM rund 107.000 LKW kontrolliert. Mehr als 3600-mal hat die Behörde Verstöße gegen das Kabinenschlafverbot festgestellt. 2019 waren es nur rund 1000. Insgesamt zeigt sich aber auch: Das BALM kontrolliert immer weniger Fahrzeuge: 2019 waren es noch 120.000 LKW, etwa 13.000 mehr als im Jahr 2023. Ein Sprecher des BALM begründet das auf Anfrage mit dem „zunehmenden Umfang an Prüftätigkeiten“ und „steigender Komplexität in den Kontrollfällen sämtlicher Rechtsgebiete“.

„Wie soll ich einen LKW-Parkplatz an einem Hotel finden?“

Dazu gibt es auch unter den Fernfahrern selbst Zweifel, ob das Kabinenschlafverbot der richtige Weg ist. Viele fühlen sich für ihren LKW und die Ladung verantwortlich, lassen ihr Fahrzeug ungern allein. „Wie soll ich einen LKW-Parkplatz an einem Hotel finden“, fragt Sergey, 35 Jahre alt, aus Nordmazedonien, gestrandet am Duisburger Logport. Er nehme die harten Arbeitsbedingungen in Kauf, verdiene hier gutes Geld – im Verhältnis zu den Löhnen in seinem Heimatland. Im LKW zu schlafen, sei für ihn normal, auch am Wochenende.

Eine mögliche Lösung könnten „Roatels“ sein, eine Mischung aus „Road“, also Straße, und Hotel. Eine Firma aus Düsseldorf hat es sich zur Aufgabe gemacht, LKW-Fahrern an Autobahnen bequeme und trotzdem bezahlbare Schlafplätze zu bieten – in Mikrohotels. Das Konzept werde gut angenommen, schreibt uns eine Sprecherin auf Anfrage. Allerdings machten LKW-Fahrer aktuell nur rund 20 Prozent der Zielgruppe aus. Ein Indiz dafür, dass das Kabinenschlafverbot trotz Gesetz kaum umgesetzt wird.

Eine Nacht in dem Mikrohotel bekommen Fahrer für unter 50 Euro. 26 Roatels gibt es in Deutschland schon – noch kein einziges in Nordrhein-Westfalen. „NRW ist eine dicht besiedelte Region, in der der Platz für unsere modularen Standorte begrenzt ist“, schreibt uns die Sprecherin. Aber: Zwei Standorte in NRW seien aktuell in Planung. Wo genau, verrät die Firma noch nicht.

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