Essen. Lukas (28) beweist viel Mut. Das rät die Polizei zur Zivilcourage. Und wo fängt unterlassene Hilfeleistung eigentlich an?
Lukas wollte eigentlich einen Freund in Dortmund besuchen. Eine Panikattacke führte dazu, dass der 28-Jährige zwei Stationen früher aus dem Zug aussteigen musste – am Bochumer Hauptbahnhof. Vielleicht hat das einer Frau das Leben gerettet. Lukas hat Zivilcourage bewiesen und sie von den Gleisen gerettet. Aber wie verhält man sich bei brenzligen Situationen richtig? Wann muss ich eingreifen, wann bringe ich mich selbst in Gefahr? Eine Kriminalhauptkommissarin gibt Antworten.
Lukas hat Zivilcourage gezeigt: „Zusammen haben wir sie aus dem Gleisbett gezogen“
So schildert Lukas die Situation: „Ich bin aus dem Zug am Bochumer Hauptbahnhof ausgestiegen. Es war abends gegen 18 Uhr. Hinter mir habe ich lautes Geschrei gehört und dann einen Mann und eine Frau gesehen. Ich dachte erst, er will ihre Handtasche klauen. Doch dann ist sie auf einmal auf die Gleise gesprungen. Hat sich quer darauf gelegt. So eine Situation habe ich noch nie erlebt, habe kurz gebraucht, um zu realisieren, was da eigentlich gerade passiert.
Ich habe nach links und rechts geschaut und bin dann hinterhergesprungen. Es war irgendwie ein Reflex. Da braucht jemand Hilfe, ich kann ein Leben retten. Die Gefahr für mich war mir in diesem Moment gar nicht so präsent. Zwei weitere Männer haben auch geholfen. Zusammen haben wir sie aus dem Gleisbett gezogen. Ein paar Minuten später kam der Zug. Dann habe ich gehört, dass eine Frau die Polizei gerufen hat, die dann auch schnell eingetroffen ist.“
Wie verhalte ich mich in solchen Situationen? Eine Kriminalhauptkommissarin erklärt, was richtig ist
„Das Schlimmste, was man in solchen Situationen machen kann, ist gar nichts zu tun“, erklärt Vanessa Horn. Sie ist Kriminalhauptkommissarin und bei der Polizei Essen im Opferschutz tätig. Sie betont, dass Hilfe aber immer möglich und zumutbar sein muss. Niemand sei verpflichtet, sich selbst in Gefahr zu bringen – in diesem Falle also auf die Gleise zu springen. „Es ist sehr mutig, dass die Männer hinterhergesprungen sind“, sagt sie. Aber das werde von niemandem erwartet. „In so einer Situation ist man allerdings verpflichtet, Hilfe durch Dritte einzufordern – also den Notruf zu wählen oder dem Bahnpersonal Bescheid zu geben.“ Das sei das Mindestmaß, was jedem abverlangt wird.
„Wir als Polizei sehen Zivilcourage immer gerne“, sagt die Kriminalhauptkommissarin. Aber: Die eigene Unversehrtheit gehe immer vor. „Zivilcourage bedeutet vor allem, nicht wegzusehen.“ Das könne auch heißen, sich um das Opfer zu kümmern oder der Polizei als Zeuge zur Verfügung zu stehen. Horn verweist auf die sechs Regeln für Zivilcourage in kritischen Situationen, die von der Polizei mit der „Aktion-Tu-Was“ aufgestellt wurden.
Zivilcourage: Sechs Regeln für den Ernstfall
Die Polizei nennt diese sechs Regeln für kritische Situationen. Damit möchte sie zeigen, dass jeder Mensch unabhängig von Alter, Geschlecht, Größe oder Körperbau, Hilfe leisten kann, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen.
Ich helfe, ohne mich selbst in Gefahr zu bringen.
Ich organisiere Hilfe unter dem Notruf 110 oder 112.
Ich fordere andere aktiv und direkt zur Mithilfe auf.
Ich beobachte genau und präge mir Tätermerkmale oder die Situation ein.
Ich kümmere mich um die Opfer.
Ich stelle mich als Zeuge zur Verfügung.
„Zivilcourage fängt ja oft schon im Kleinen an“, sagt sie. Das könne ein Mitschüler sein, der gemobbt wird oder rassistische oder antisemitische Äußerungen in der Bahn. In solchen Situationen mutig zu sein, in dem man Stellung bezieht und hinschaut, das sei wichtig.
„Wenn zum Beispiel eine Schlägerei ist, dann muss ich nicht selbst eingreifen. Dann kann es auch hilfreich sein, andere um Mithilfe zu bitten oder auf die Situation aufmerksam zu machen“, sagt Horn. Denn wer gar nichts macht, laufe Gefahr, sich unterlassener Hilfeleistung schuldig zu machen. Sie erwähnt einen acht Jahre alten Fall, der vielen Menschen im Ruhrgebiet noch im Gedächtnis sein dürfte. Ein Mann liegt in Essen im Vorraum einer Bankfiliale regungslos neben dem Geldautomaten. Niemand wählt den Notruf, Kunden steigen über ihn hinweg. Der Mann stirbt. Drei Betroffene, die ihn angeblich für einen Obdachlosen hielten, wurden damals zu Geldstrafen verurteilt. Ihr Glück im Unglück: Eine Neurologin sagte aus, dass der Mann nach drei schweren Stürzen kurz hintereinander auch gestorben wäre, wenn der Notarzt schneller vor Ort gewesen wäre.
Hilfe in Notsituationen: Wann bin ich in der Pflicht, etwas zu tun?
Laut Paragraf 323c im Strafgesetzbuch macht sich strafbar, wer bei einem Unglücksfall keine Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und zumutbar wäre und insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer abläuft. Das Gesetz sieht dafür Geldstrafen oder bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe vor. Was heißt denn „Hilfe leisten“?
„Was wirklich jeder tun kann, ist den Notruf zu wählen.“
„Es kommt immer auf die Situation an“, sagt Horn. „Was aber wirklich jeder tun kann, ist den Notruf zu wählen.“ Das sei das Mindestmaß, zu dem wirklich jeder verpflichtet sei. Sie betont: „Das möchte ja auch selbst jeder, der sich in einer Notsituation befindet.“ Dazu gehöre auch, Einsatzkräfte nicht zu behindern, die Menschen in Not helfen möchten. Wie das Blockieren der Rettungsgasse oder das Angreifen von Rettungskräften.
Horn rät, sich frühzeitig mit solchen Situationen auseinanderzusetzen. Man sollte zum Beispiel wissen, wie man den Notruf wählt, auch wenn das Handy gesperrt ist, oder welche Informationen Einsatzkräfte benötigen. Viele Menschen seien in solchen Momenten überfordert, weil sie überraschend kommen, sie deswegen unter Schock stehen. Eine gute Vorbereitung könne helfen, im Ernstfall richtig zu handeln.