Essen. Weil Personal fehlt, muss es in der Pflege oft schnell gehen. Beispiele aus dem Ruhrgebiet zeigen, wie digitale Helfer Mangel abmildern.

Als der 30-jährige Daniel Martinez in die Pflege ging, lernte er das Faxgerät kennen. Der junge Mann mit den Dreadlocks erzählt das ohne Anzeichen eines Lächelns. Die Sache mit der Digitalisierung ist ihm ernst: In so vielen Branchen werde mit digitalen Hilfen und Künstlicher Intelligenz (KI) gearbeitet. „Warum nicht auch bei uns?“

Denn in der Pflege fehlt Personal und die Lage wird sich verschärfen. Die Bertelsmann-Stiftung geht von davon aus, dass bis 2030 fast 500.000 Vollzeitkräfte fehlen. Die Digitalisierung wird vielerorts als eine Lösung genannt, um den Mangel abzumildern. Dirk Janssen, Vorstand des BKK-Landesverbandes Nordwest, mahnte unlängst, die Sicherstellung der pflegerischen Versorgung sei bedroht. „Doch es gibt hoffnungsvolle Ansätze, wie der Pflegeberuf attraktiver gestaltet und die Pflege durch Digitalisierung und KI in Zukunft innovativ umstrukturiert wird.“ Vier Beispiele aus NRW zeigen, was KI bringt.

Das Handy, das Pflegezeit schafft

Um die zeitaufwendige Pflegedokumentation zu beschleunigen wird mittels einer App mit Spracherkennung die KI, Künstliche Intelligenz eingesetzt.
Es gibt inzwischen eine ganze Reihe von Sprachassistenzsystemen, die der Pflege Dokumentationsaufgaben abnehmen und damit Zeit fürs Pflegen schaffen wollen. „Dexter“ wird in Essen genutzt. © FUNKE Foto Services | Andreas Buck

In der Hand von Daniel Martinez liegt ein Handy. Darauf öffnet er eine App, identifiziert sich und drückt aufs Mikrofon-Symbol: Bei Herrn B. habe er eine Wunde versorgt, sagt der examinierte Pfleger und der Satz erscheint auf dem Bildschirm. Es dauert keine Sekunde, da hat die App die digitale Akte des Bewohners gefunden, die Rubrik Wundversorgung angelegt und mit Text und Uhrzeit verknüpft. Martinez steckt das Handy ein - Schreibkram erledigt.

Der Dokumentationsaufwand in der Pflege wird oft als großer Zeitfresser genannt. Angesicht fehlender Fachkräfte gewinnen digitale Sprachassistenten an Bedeutung. Das Essener Seniorenzentrum St. Martin hat sich im Juni für die App „Dexter“ als eines der Angebote am Markt entschieden. „Das ist eine riesige Entlastung“, schwärmt Kathrin Borowczak, Leiterin des Heims mit 110 Beschäftigten und 102 Bewohnenden. Pflegekräfte sparten bis zu einer Stunde pro Schicht an Dokumentationsaufwand, Sprachschnitzer würden ausgemerzt, Dokumentationslücken verhindert, Rezepte beim Hausarzt direkt angefragt. Eine Neuaufnahme könne bis zu zwei Stunden dauern - mit der App stünde die Datenbasis in wenigen Minuten.

Entwickelt wurde Dexter als Start-up von dem früheren Essener Uniklinikarzt Marc Margulan und seinem Partner Eren Cirit. 50 Einrichtungen nutzen sie Margulans Angaben zufolge bislang. Die Kosten sind gestaffelt nach Betriebsgröße. St. Martin trägt 10.000 Euro für App und 28 Handys selbst. Lohne sich, sagt Markus Kampling, Chef der Katholischen Pflegehilfe in Essen, die auch bereits digitale Arztvisiten nutzt. Aber: „KI muss trotzdem umsichtig eingesetzt werden.“

Kathrin Borowczak

„Das ist eine riesige Entlastung.“

Kathrin Borowczak

Das Bett, das Pipi meldet

An dem Bett, in dem man nicht nur schläft, wird in Wickede am Rande des Sauerlands gearbeitet. Die Firma Wissner Bosserhoff mit rund 250 Beschäftigten im Ruhrtal hat digitale Assistenzsysteme entwickelt, die sich melden, wenn ein Pflegebedürftiger mitten in der Nacht aus dem Bett aufsteht und Hilfe brauchen könnte, wenn er stark schwitzt oder sich einnässt. Sensoren in einer Matte sollen erkennen, ob ein Bettlägeriger umgelagert werden muss - und übertragen Daten ans Dokumentationssystem.

Pflegekräfte sparten Zeit, Kontrollgänge in Nachtschichten könnten priorisiert werden. Zugleich werde das Risiko von Wundliegen oder Stürzen reduziert, heißt es von einem Firmensprecher. Die Mietkosten für das System „SafeSense 3“ liegen bei einem Euro pro Tag und Matte Miete.

Der Roboter, der aktivieren soll

In der Pflege wird auch Robotik getestet und eingesetzt. Modelle des KI-Roboters Pepper sind in mehreren Häusern in NRW inzwischen im Einsatz - der Erfolg wird unterschiedlich beurteilt.
In der Pflege wird auch Robotik getestet und eingesetzt. Modelle des KI-Roboters Pepper sind in mehreren Häusern in NRW inzwischen im Einsatz - der Erfolg wird unterschiedlich beurteilt. © Jochen Tack | Jochen Tack

Die Augen sind erleuchtet, der Mund ist zu einem staunenden Lächeln verzogen: Der Roboter Pepper kann sprechen, Emotionen erkennen und lernt dank KI. Seit Januar 2023 ist die Pflegehilfe im Haus Lessing, einem Seniorenheim mit Schwerpunkt Demenz, in Bergkamen im Einsatz. Die 60 Bewohnenden hätten viel Freude an der Maschine, die vorlese, singe, zum Gespräch animiere, sagt Hanna Schmidt, Vize-Chefin des familiengeführten Hauses mit 55 Beschäftigten. Doch anders als andere Fachleute sieht sie keine Entlastung für die Arbeitskräfte: „Man kann Pepper nur unterstützend in der Betreuung einsetzen.“

Pepper werde stets von einer Mitarbeiterin begleitet, die den Bewohnern den Roboter näherbringen und bei Problemen eingreifen kann. Zeitersparnis fürs Personal gebe es nicht, dafür Schulungsaufwand und Wartungsarbeiten. Die Kosten trage das Haus selbst. Was den Einsatz von KI in der Pflege angeht, ist Schmidt zudem skeptisch: „Ich interessiere mich sehr dafür, wir haben viel ausprobiert. Aber Pflege bleibt ein personalintensives Geschäft.“

Auch für die ambulante Pflege entwickeln Fachleute Hilfen weiter. Das Düsseldorfer Duo Zerrin Börcek und Jeanette Bouffier arbeitet an einem KI-basierten Sprachassistenten mit Kalender und Biografie, über den Angehörige, Freunde, Pflegekräfte und Ärzte als Netzwerk zusammengeschlossen werden. Ziel: Menschen etwa mit Demenz sollen länger zu Hause leben können. Derzeit wird ein Prototyp in einem Pflegeheim getestet.

Die App, die Zeit schenkt

Um die zeitaufwendige Pflegedokumentation zu beschleunigen wird mittels einer App mit Spracherkennung die KI, Künstliche Intelligenz eingesetzt.
Musik per Knopfdruck: Mit der App „Nyby“ kommen Ehrenamtliche wie der Musikpädagoge Ralf Heinser ins Seniorenheim St. Martin in Essen. Ihr Einsatz entlastet die Beschäftigten. © FUNKE Foto Services | Andreas Buck

Im ersten Geschoss des Essener Heims St. Martin wird es laut: Ralf Heinser (62) sitzt mit seiner Gitarre an einem Tisch, umrundet von Seniorinnen und Senioren mit Instrumenten. Seit drei Jahren musiziert Heinser mit den Heimbewohnern - ins Haus kommt er per App.

„Nyby“ heißt sie, was norwegisch ist und „neue Stadt“ heißt. Eine App, über die sich Ehrenamtliche registrieren, sich austauschen und auf Hilfegesuche aus der Einrichtung reagieren können. Wer kann mit einer Bewohnerin mal in die Oper? Wer mit einem Bewohner zum Arzt? 64 aktive Helfende zwischen Azubi- und Renten-Alter gebe es. Vor der App seien es rund 20 Aktive gewesen, sagt Einrichtungsleiterin Borowczak, und kaum Junge. Sie freut sich über das hohe Maß an Engagement, kann aber auch vorrechnen: Bis zu 80 Ehrenamtsstunden kämen im Monat zusammen. Pflegekräften werde so Arbeitsdruck genommen: Wenn Ralf Heinser mit seiner Band eine Stunde Musik mache, hätten die Kräfte mehr Zeit für die übrigen Bewohner auf der Station.

Zu den Kosten, knapp 20.000 Euro im Jahr für App und Koordinatorin, habe die AOK Rheinland/Hamburg nun erstmals die Hälfte beigesteuert. Pflegehilfe-Chef Kampling weiß, dass sich das nicht jeder Träger leisten kann. Einen hohen Gewinn sieht er dennoch: „Ohne das Ehrenamt wären bei uns viele Veranstaltungen nicht mehr möglich, die aber so wichtig für das Leben in einem Pflegeheim sind.“