Essen. Minister Lindner will die AU per Anruf wieder abschaffen. Grund: der hohe Krankenstand. NRW-Arbeitgeber befürworten das, Ärzte warnen.

Unter dem Eindruck steigender Krankenstände befürworten Unternehmer in NRW den Vorstoß von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP), die Ende 2023 dauerhaft eingeführte telefonische Krankschreibung wieder abzuschaffen. Das sei völlig berechtigt, sagt Johannes Pöttering, Hauptgeschäftsführer der NRW-Unternehmerverbände, dieser Redaktion.

„Die telefonische Feststellung von Arbeitsunfähigkeiten - außerhalb von pandemischen Zeiten – halten wir für ungeeignet“, sagt Pöttering deutlich. Er schließt einen möglichen Zusammenhang zwischen der AU per Anruf und „den zuletzt enorm gestiegenen Krankenstands-Zahlen“ nicht aus: „Dem hohen Beweiswert einer ordnungsgemäß festgestellten Arbeitsunfähigkeit kann nur eine persönliche ärztliche Untersuchung gerecht werden“, so Pöttering. Am Telefon indes müsse sich der Arzt allein auf die Angaben des Patienten verlassen.

Der Bundesminister hatte bei einer Veranstaltung in Berlin am Donnerstagabend für die Abschaffung der telefonischen Krankschreibung plädiert. „Man wird für die Krankmeldung zukünftig wieder zum Arzt gehen müssen und das nicht einfach nur telefonisch erledigen können“, sagte der FDP-Chef. Er wolle niemandem vorwerfen, die Regelung auszunutzen - aber es gebe „eine Korrelation zwischen dem jährlichen Krankenstand in Deutschland und der Einführung der Maßnahme, die als guter Bürokratieabbau gedacht war“. Im Zuge ihrer Wachstumsinitiative für die Wirtschaft hat die Bundesregierung vereinbart, die telefonische Krankmeldung zu überprüfen.

Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) plädierte bei einer Veranstaltung in Berlin für das Aus der telefonischen Krankenschreibung.
Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) plädierte bei einer Veranstaltung in Berlin für das Aus der telefonischen Krankenschreibung. © dpa | Sebastian Kahnert

Kassen und Ärzte widersprechen Eindruck: „Wir gehen verantwortungsvoll mit der Telefon-AU um“

Widerspruch gibt es von niedergelassenen Ärzten und Krankenkassen in NRW. Die telefonische Krankschreibung spare Patienten Wartezeiten in vollen Arztpraxen, entlaste das Praxispersonal und reduziere das Ansteckungsrisiko aller Beteiligten, sagt Barbara Steffens, Landeschefin der Techniker Krankenkasse in NRW. „Daher ist es sinnvoll, die Krankschreibung per Telefon weiter zu ermöglichen“, so die frühere NRW-Gesundheitsministerin (Grüne).

Ähnlich äußert sich Frank Bergmann, der als Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein für die niedergelassenen Kassenärztinnen und -ärzte in der ambulanten Versorgung spricht. Er warnte insbesondere mit Blick auf die Infektionszeit im Herbst und Winter davor, die Telefon-AU voreilig abzuschaffen. Die Voraussetzungen seien ja bereits eingeschränkt worden. „Die Kolleginnen und Kollegen in den nordrheinischen Praxen gehen nach meiner Erfahrung sehr verantwortungsvoll und umsichtig mit der Telefon-AU um“, so Bergmann.

AOK: Zahl der Krankmeldungen ist seit 2019 deutlich gestiegen

Die Möglichkeit, sich am Telefon krankschreiben zu lassen, war während der Corona-Pandemie zur Praxisentlastung und zum Infektionsschutz eingeführt worden. Sie galt bis März 2023. Der Gemeinsame Bundesausschuss von Ärzten, Krankenkassen und Kliniken beschloss, die Regelung ab dem 7. Dezember 2023 dauerhaft wieder einzuführen, um den Arztpraxen im Infektionswinter Luft zu verschaffen. Die Telefon-AU wird für maximal fünf Kalendertage nur dann ausgestellt, wenn eine Videosprechstunde nicht möglich und der Patient der Praxis persönlich bekannt ist.

Dr. Frank Bergmann, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein, warnt vor dem voreiligen Aus der Telefon-AU.
Dr. Frank Bergmann, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein, warnt vor dem voreiligen Aus der Telefon-AU. © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND

Tatsächlich steigt die Zahl der Krankschreibungen insbesondere im Vergleich zum Vor-Corona-Jahr 2019 enorm an. Die AOK Rheinland/Hamburg etwa registrierte einen Anstieg von rund 920.000 im ersten Halbjahr 2019 auf fast 1,7 Millionen Krankschreibungen in den ersten sechs Monaten 2024. Bei den Atemwegserkrankungen, die hauptsächlich für telefonische Krankschreibungen infrage kommen, hat sich die Zahl der Meldungen verdoppelt. Auch im Vergleich zu 2023 gab es jeweils ein leichtes Plus.

Wie hoch der Anteil der Telefon-AUs war, wird aber nicht erfasst. Unklar bleibt, ob die Zahlen steigen, weil Ärzten die Beurteilung schwerer fällt, Patienten die Regelung ausnutzen oder die Atemwegserkrankungen tatsächlich zugenommen haben.

Betriebskrankenkassen warnen vor Ansteckungsrisiken

Deutlich wird da der BKK-Landesverband Nordwest. Im April 2019 lag der Krankenstand bei 4,6 Prozent. In den gleichen Monaten 2023 (ohne Telefon-AU) und 2024 (mit Telefon-AU) bei 5,4 und 6,1 Prozent. Der Verband betont aber, dass es nach Einführung der Telefon-AU 2020 kein Plus bei den Krankschreibungen gab - im Gegenteil, die Zahlen seien so niedrig wie nie gewesen.

Dass es 2022 und 2023 vermehrt zu Atemwegserkrankungen kam, führt eine Sprecherin darauf zurück, dass Hygienemaßnahmen aus der Pandemie zurückgefahren wurden und Menschen mit oftmals geschwächtem Immunsystem vermehrt wieder ins Büro gegangen sind. Der Verband warnt deshalb vor Ansteckungen in Praxen, Bus und Bahn, wenn die Telefon-AU wieder abgeschafft wird. In den Daten der Techniker Krankenkasse sind Krankenstand und Fehltage im ersten Halbjahr 2024 auf dem Niveau des gesamten Vorjahres, aber deutlich über dem des Jahres 2019.

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