Düsseldorf. Wie lässt sich mit dem Horror des Anschlags von Solingen umgehen? Eine Traumatherapeutin erklärt, was Betroffenen jetzt helfen kann.
Sie wollten das „Fest der Vielfalt“ feiern, zu Live-Musik tanzen, einen unbeschwerten Freitagabend verbringen. Dann wurden sie Opfer eines Attentats. Bei dem Messerangriff in Solingen wurden eine Frau und zwei Männer getötet, acht weitere Menschen zum Teil schwerst verletzt. Etliche Besucherinnen und Besucher wurden Augenzeugen des Terrors, haben sich teils um Verletzte gekümmert oder Angehörige verloren. Wie lässt sich dieses Trauma bewältigen? Darüber hat Sophie Sommer mit der Düsseldorfer Traumatherapeutin Regine Scholz gesprochen.
Von einer Sekunde auf die andere ist nichts mehr, wie es war: So beschreiben viele Menschen, die ein Attentat überlebt haben, ihr Gefühl. Wird sie der Abend in Solingen ein Leben lang begleiten?
Regine Scholz: Vergessen wird das Geschehen bestimmt niemand. Wieweit es das weitere Leben bestimmen wird, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Eine große Rolle spielt dabei das Ausmaß der Beteiligung: Wurde man selbst verletzt? Hat man Angehörige verloren? Hat man die Situation aus der Nähe beobachtet? Entscheidend ist darüber hinaus auch die allgemeine seelische Stabilität.
„Eine ,richtige‘ Reaktion auf so eine Extremsituation gibt es nicht.“
Wie reagieren Betroffene auf so eine extreme Erfahrung?
Unterschiedlich. Eine „richtige“ Reaktion auf so eine Extremsituation gibt es nicht. Einige mögen sofort mit sehr heftiger Angst und Wut reagieren, andere wirken wie betäubt oder sogar unbeteiligt. Schlafstörungen und Schreckhaftigkeit sind typische Folgen. Auch ein ständiges Gedankenkreisen, also dass man sich immer wieder fragt: Warum musste das passieren? Viele bekommen die Bilder nicht aus dem Kopf. Manche Betroffene leugnen das Geschehen aber auch oder sind wie emotional taub. All diese Gefühle können sich auch gegenseitig abwechseln.
Viele Augenzeugen treibt um, dass es auch sie hätte treffen können.
Bei der sogenannten sekundären Traumatisierung ist zuerst an die Menschen zu denken, die das Geschehen mit ansehen mussten, ohne selbst körperlich verletzt zu werden. Ihnen sitzt buchstäblich „der Schrecken noch in den Knochen“. Bei ihnen treten die oben genannten Traumafolgen ebenso oder teilweise auf. Hinzu kommt die angsteinflößende Erkenntnis: Es hätte genauso gut mich oder meine Angehörigen treffen können. Die Reaktion darauf ist meist Erleichterung, dann aber folgen oft auch Schuldgefühle wegen der Erleichterung..
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Wie lange werden diese Gefühle anhalten?
Derzeit leiden die meisten Betroffenen von Solingen in größerem oder geringerem Maße an einer akuten Belastungsreaktion, die aber bei denen, die keine Angehörigen verloren haben oder selbst verletzt sind, bald nachlassen sollten. Ist das nicht der Fall, kann es sich um eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) handeln. Sie tritt in der Regel mit einer gewissen Verzögerung von einigen Wochen oder Monaten – aber meist nicht mehr als sechs Monaten – nach einem Extremereignis auf. Das Gehirn braucht schließlich etwas Zeit, um aus den einzelnen Elementen des Geschehens ein zusammenhängendes „Bild“ zu erstellen. Dann kann eine Therapie helfen.
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Einen Platz zu bekommen, ist alles andere als leicht.
Das dürfte so nicht sein, es braucht viel mehr Therapieplätze. Trotzdem ist nicht in jedem Fall eine Psychotherapie erforderlich. Wichtig ist als erstes, dass alle aus der Gefahrenzone entfernt sind, sich inzwischen an einem sicheren Ort befinden. Zum Sicherheitsempfinden trägt bestimmt auch bei, dass der Täter gefasst ist.
In Solingen wurde eine kostenfreie Telefon-Hotline (0800/0009546) zur psychosozialen Beratung freigeschaltet. Ein richtiger Schritt?
Ja, auf jeden Fall. Es ist wichtig für Betroffene, die reden wollen, dass sie Ansprechpartner haben und ihnen gezeigt wird, dass sie nicht allein sein.
Wenn ich selbst jemanden kenne, der in Solingen vor Ort war – wie kann ich dieser Person nun am besten beistehen?
Ein Ohr anbieten. Und wenn jemand nicht reden mag, auch nicht drängeln, vielleicht einen Tee oder Kaffee kochen. Vor allem zuhören ist wichtig, fragen, was der oder die Betroffene jetzt braucht – und diese Wünsche dann auch akzeptieren und nicht bewerten. Oder Hilfe bei alltäglichen Verrichtungen anbieten, zum Beispiel für jemanden einkaufen gehen.
Manche Menschen haben nach dem Attentat in Solingen Angst, Veranstaltungen zu besuchen oder sich überhaupt im öffentlichen Raum zu bewegen. Was würden Sie Ihnen raten?
So ein Ereignis erinnert uns in unangenehmer Weise daran, dass es absolute Sicherheit nirgends gibt. Wir leben alle mit sehr hilfreichen Illusionen: „Ich bin unverwundbar, mir passiert nichts. Schlechte Dinge widerfahren nur schlechten Menschen, das bin ich nicht“. Traumatische Ereignisse durchschlagen diesen illusionären Schutzpanzer und lassen uns hilflos zurück. Um mit dem Gefühl der Verletzlichkeit und Hilflosigkeit umzugehen, haben wir die Tendenz, uns irgendwie ein Gefühl der Sicherheit oder Kontrolle zu verschaffen: Wenn ich öffentliche Plätze meide, passiert mir nichts. Wenn ich nach einem Autounfall nicht mehr Auto fahre, passiert mir nichts. Und so weiter. Für den Anfang kann das helfen, da muss jede und jeder das eigene Tempo finden. Auf die Dauer schränken diese Maßnahmen das Leben sehr ein. Wenn das überhandnimmt, sollte professionelle Hilfe gesucht werden.
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