Essen. Die Polizei will mit mehr Kontrollen dichtes Auffahren eindämmen. Doch mit den jetzigen Mitteln wird ihr das kaum gelingen.

Die ersten Drängler begegnen uns, bevor wir auf der Autobahn sind. Von der Auffahrt sehen wir, wie ein blauer Skoda auf der linken Spur viel zu dicht am Vordermann klebt: Fünfzehn Meter vielleicht bei Tempo 90. Nach der Faustregel „halber Tacho“, müsste der Sicherheitsabstand das Dreifache betragen. Dabei kann der Toyota vor ihm gar nicht schneller fahren, in der Schlange will er einen LKW überholen. Da kommt noch ein grüner VW angebraust und bremst aggressiv hinter dem Skoda ab. Offenbar fühlt sich der erste Drängler bedrängt, wechselt auf die rechte Spur – und macht dort den Sicherheitsabstand zwischen dem Lkw und dem folgenden Fahrzeug zunichte.

Drängler! Darauf wollen wir heute achten bei unserer Fahrt über die A52 von Essen nach Düsseldorf und zurück. Mit an Bord ist als Experte Wolfgang Packmohr, der vor seinem Ruhestand die Polizeidirektion Verkehr für Essen und Mülheim geleitet hat. Nun setzt er sich im Fachverband „Fuss“ für die Rechte von Fußgängern ein und ist Vorstand im Deutschen Verkehrssicherheitsrat. Unsere Fahrt wird Packmohr so zusammenfassen: „Etwa vierzig Prozent der Autofahrer unterschreiten immer wieder die Sicherheitsabstände.“

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So tödlich wie Alkohol

Das ist so alltäglich wie gefährlich: Drängeln ist genauso tödlich wie Alkohol. Fast jeden zweiten Tag stirbt ein Mensch durch Drängler. Und jeden Tag werden 165 Menschen verletzt – das sind sogar dreimal mehr Opfer als durch Alkoholfahrten. Betrachtet man nur die Unfälle mit Personenschaden, ist vieles besser geworden. Die Leute rasen viel weniger als Anfang des Jahrtausends (-57%). Und sie fahren viel seltener alkoholisiert (-40%). Aber Abstand halten, das fällt ihnen weiterhin schwer. Die Zahlen sind zwar auch hier zurückgegangen (-22%), aber seit 16 Jahren bewegen wir uns auf dem gleichen Niveau (siehe Grafik). So hat die Unfallursache „ungenügender Sicherheitsabstand“ schon vor zehn Jahren den Tempoverstoß überholt.

Auf der Ruhrtalbrücke fährt jemand seinem Vordermann extrem dicht auf – „nur“ bei Tempo 80 und auf der rechten Spur. Aber am Kreuz Breitscheid muss er oder sie wahrscheinlich gleich bremsen. „Viele werden gar kein Gefühl dafür haben, dass sie den Abstand nicht einhalten“, sagt Packmohr. „Andere können die Entfernungen vielleicht nicht richtig einschätzen, weil ihre Augen so schlecht geworden sind.“ Wenn der Graue Star zum Beispiel nur ein Auge trübt, schränkt dies das räumliche Sehen ein. Wir überholen: Eine Frau mittleren Alters schaut auf das Handy in ihrer Hand. „Wahrscheinlich“, sagt Packmohr, „sieht sie das vorausfahrende Auto nur schemenhaft.“

Was man tun kann

„Ich würde für die Pflicht zu Sehtests plädieren“, sagt der Experte. Und: „Überwachung muss stattfinden.“ Die zusätzlichen Stellen würden sich ja über die Bußgelder refinanzieren. Und diese müssten erhöht werden, glaubt Packmohr. „Man sieht in der Schweiz oder den Niederlanden, dass das Wirkung zeigt.“

Wolfgang Packmohr

„Man kommt nicht schnell genug vorbei. Der andere stört.“

Wolfgang Packmohr

Wir sind unter der Woche am frühen Nachmittag unterwegs. Der Verkehr ist noch nicht besonders dicht. Und trotzdem, sagt Packmohr, „haben wir fünf Fälle gesehen, bei denen es in den Bereich Ordnungswidrigkeit hineingeht. Bei einer Geschwindigkeit von 100 Stundenkilometern nur 20 Meter Abstand – das zieht einen Monat Fahrverbot nach sich.“ Aber eine Nötigung war diesmal nicht dabei, keine Lichthupe, kein wiederholtes dichtes Auffahren.

Solche Aggressivität nimmt allerdings deutlich zu. Die Unfallforschung der Versicherer hat das in ihrer jüngsten Befragung nachgewiesen. Jeder Vierte bremst schon mal andere aus beim Einscheren. Jeder fünfte Autofahrer findet: „Drängeln gehört bei den vollen Straßen heutzutage einfach zu meinem Fahrstil“. Ebenso viele „räumen“ schon mal die Überholspur mit der Lichthupe. 2016 lag der Vergleichswert nur halb so hoch. In gleichem Maß ist auch das Bedürfnis gestiegen, sich „gleich abreagieren zu müssen, wenn man sich geärgert hat“. Macht mittlerweile die Hälfte aller Autofahrer.

Informationsflut, Arbeitsverdichtung, Stress. Auch Wolfgang Packmohr glaubt, dass dies eine wichtige Rolle spielt: „Es wird alles immer schnelllebiger.“ Andere Verkehrsteilnehmer würden als Hindernis empfunden. „Man kommt nicht schnell genug vorbei. Der andere stört.“ Sich gegen aggressives Fahrverhalten zu wehren, ist schwierig: „Wer Anzeige erstattet, hat kaum eine Chance. Es steht fast immer Aussage gegen Aussage“, sagt Packmohr. Dann sei es dem Engagement und der Findigkeit des Richters überlassen, die Glaubwürdigkeit eines Dränglers mit Fragen zu erschüttern.

Ein Tropfen auf dem heißen Asphalt

Die A52 an einem Wochentag: Die zwei „Verfolger“ auf der mittleren Spur fahren viel zu dicht auf. (Um die Autos und Personen unkenntlich zu machen, ist das Bild absichtlich unscharf.)
Die A52 an einem Wochentag: Die zwei „Verfolger“ auf der mittleren Spur fahren viel zu dicht auf. (Um die Autos und Personen unkenntlich zu machen, ist das Bild absichtlich unscharf.) © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Die Abstandsmessungen der Polizei jedenfalls sind eher ein Tropfen auf dem heißen Asphalt. Statistisch gesehen gerät man als Autofahrer alle 304 Jahre in eine solche Kontrolle. Beim Thema Tempo sind es immer noch neun Jahre. (In Zahlen: 2023 gab es in NRW fast 59.000 Abstandskontrollen und etwas mehr als zwei Millionen Tempomessungen.) Das weiß auch Packmohr: „Es ist eher dem Zufall geschuldet, wenn ein Kollege Drängeln bemerkt und verfolgt.“

Tatsächlich hat die Polizei ihre Abstandsmessungen schon gesteigert und will sie weiter auszubauen. Zumindest für die Autobahnen ist dies seit diesem Jahr erklärtes Ziel in der „Fachstrategie Verkehr“. Denn auch im Innenministerium weiß man, dass Abstandsverstöße „eine Hauptunfallursache bei schweren Verkehrsunfällen darstellen“. Ein Sprecher verweist auf ein technisches Hindernis: Es gebe einfach mehr Geräte für die Tempomessung. Für Abstandsmessungen benötigt man auch 300 Meter freie Sicht. Kurz: Abstand messen ist umständlich und teurer.

Aber muss das so sein?

Künstliche Intelligenz könnte die Abstandsmessung revolutionieren. Zum „Handy am Steuer“ gab es schon vor zwei Jahren Modellprojekte, bei denen Filmaufnahmen mit KI zuverlässig ausgewertet wurden. Mit einem simplen Video könnte man so auch Geschwindigkeiten und Abstände bestimmen. Software-Entwickler Felix Rempe hält das für „kein Riesenthema“. Man könne dafür bestehende KI-Techniken anwenden. Mit seiner Firma Fryce kümmert sich Rempe darum, den Verkehrsfluss bei München zu optimieren. Dafür nutzt das Projekt KI_Cam die vorhandenen Verkehrskameras. Die bieten allerdings keine ausreichende Bildfrequenz, um Abstände zu kontrollieren. „Sie sind auch wegen des Datenschutzes so gering auflösend.“

Letztlich ist es also eine Frage des politischen Willens. Jemand müsste eine KI-Überwachungstechnik beauftragen, das Physikalisch-Technische Bundesanstalt müsste sie prüfen. Und wenn sie zugelassen würde, könnte eine kleine, kostengünstige Kamera den Job erledigen.

Den Laster dort vorne wollen wir überholen auf der mittleren Spur, vor uns sind aber auch noch Autos. Frisch von der Auffahrt kommt ein grüner Flitzer rechts angebraust, so nah, dass wir nun gar nicht mehr auf die rechte Spur wechseln könnten. Als wir dann überholen, bremst der Flitzer und huscht mit zwei Autolängen Abstand hinter uns durch, braust vorbei und zieht vor dem Lkw ganz nach rechts – wahrscheinlich, um uns zu signalisieren, was für notorische Linksfahrer wir seien.