Oberhausen/Bochum. Seit Corona haben es Schülerbegegnungen schwer. Drei Teilnehmer der Oberhausener Multi berichten, wie der Austausch ihr Leben prägte.
Vielleicht wird der Jugendaustausch unterschätzt. Wer als Jugendlicher ins Ausland geht oder Gastschüler aus Peru oder Polen in seiner Familie erlebt, „erweitert seinen Horizont. Er ist nicht mehr so empfänglich für Vorurteile“, sagt Marc Grunenberg. Er organisiert die größte internationale Jugendbegegnung, die eine deutsche Stadt auf die Beine gestellt hat: die „Multi“ in Oberhausen. Sie beginnt am Samstag.
Die „Multi“ trotzt einem Trend. Denn von der Pandemie haben sich viele Austauschprogramme noch nicht erholt. Während die Urlaubsreisen fast das Vor-Corona-Niveau erreicht haben, sind es bei den Schülerbegegnungen nur 80 Prozent. Immerhin nimmt jeder vierte Jugendliche teil – allerdings hätten zwei Drittel Interesse, hat die „Zugangsstudie“ gezeigt, unabhängig von ihren Lebensumständen.
Auch in Oberhausen war es „unglaublich schwierig“, nach der Pandemiepause wieder ausreichend Gastfamilien zu finden. Aber es ist gelungen. In diesen Stunden landen über hundert Jugendliche aus 13 Ländern, um das Ruhrgebiet kennenzulernen – aus Ecuador und Rumänien, China und Finnland. 85 Jugendliche aus Oberhausen und ihre Familien werden sie zwei Wochen lang beherbergen, nächstes Jahr geht‘s auf Gegenbesuch. Und alle haben sie die Möglichkeit, Freundschaften zu schließen, die das Leben verändern. Davon berichten drei ehemalige Teilnehmer aus England, der Ukraine und dem Sauerland.
Joseph McKenzie
Mit 18 Jahren hat Joseph McKenzie als Multi-Gast das Musical „Starlight Express“ gesehen – sechs Jahre später ist der Engländer selbst Darsteller. Diese Geschichte ist zu schön, um genau zu sein. Tatsächlich ist die komplizierte Version aber mindestens genauso gut.
Joseph McKenzie war schon immer „Musical-Nerd“, vielleicht weil seine Großeltern so viele Musik-Filme mit ihm schauten. Mit zehn wünschte er sich Gesangsunterricht statt der ungeliebten Geige. Mit zwölf wählte er Deutsch in der Schule statt Französisch, weil es hier die größere Musical-Landschaft gibt. Und als er mit 16 Jahren das erste Mal nach Oberhausen kam, war Starlight Express bereits sein Lieblingsmusical. Aber ...
Bochum war damals der einzige Spielort weltweit und Joseph setzte seine Hoffnungen in den „Überraschungstag“ der Multi. Damals ging es allerdings in den Bottroper Movie Park. Er wirkte wohl enttäuscht.
„Zwei Jahre später war ich noch einmal in Oberhausen. Als der Überraschungstag kam, schauten mich die Teamleiter alle so komisch an. Aber erst als wir die Ausfahrt in Bochum nahmen, habe ich es kapiert und bin ausgeflippt. Von der ersten bis zur letzten Zeile habe ich mitgesungen auf Englisch. Nach der Vorstellung habe ich im Foyer mit dem Manga-Darsteller sprechen können. Er kam aus Leeds, nur eine gute Stunde entfernt von Middlesbrough, wo ich aufgewachsen bin.“
„In zehn Jahren stehe ich selber hier“
„Mein Traum, ein Musical-Darsteller zu werden, war immer abstrakt“, sagt McKenzie. „Es war die Multi, die mir gezeigt hat, dass es eine echte Möglichkeit ist. Ich habe das körperlich gespürt. Direkt nach der Show habe ich allen gesagt: In zehn Jahren stehe ich selber hier.“ Er schaffte es vier Jahre früher.
Am 29. Mai 2024 hatte Joseph McKenzie seinen ersten Auftritt als „Brexit“, als Zweitbesetzung springt er in verschiedene Rollen. Mary aus China, Raven aus den USA und Breva aus Kasachstan schickten ihm Glückwünsche wie so viele andere Multi-Freunde. Natürlich hat Joseph Kai aus Oberhausen eingeladen, seinen besten Freund, seit Kai 2015 mit der Multi nach Middlesbrough kam. Ein Selfie der beiden ist Hintergrundbild auf Josephs Telefon. Dazu Jada, Floyd und Vanessa, ebenfalls aus Oberhausen, die sechs Jahre zuvor in der Show neben ihm saßen. Das ist für Joseph McKenzie die Essenz des Jugendaustauschs: Als er nach Deutschland auswanderte, kam er nicht in ein fremdes Land, er zog zu Freunden.
Anna Sapko
„Ich habe in Oberhausen Freiheit gefühlt“, sagt Anna Sapko. „Das Gefühl, hier kannst du alles schaffen.“ Die 44-Jährige kommt aus der Partnerstadt Saporischschja – heute explodieren dort russische Raketen, aber die Multi gibt es seit 1992, und die 15-jährige Anna bewegte nicht der Krieg, sondern die Armut.
„Hier ist dein Handtuch, sagte man mir, als ich ankam. Zuhause hatten wir nur eines für die ganze Familie. Man hat mich unterstützt, es gab Struktur. In zwei Tagen fahren wir zur Expo nach Hannover – das gab mir Sicherheit. Dann gab es für den Ausflug auch noch einen Rucksack mit Essen und etwas Geld. Ich fühlte mich wie in einer Fernsehserie, wenn die Familie zusammen am Frühstückstisch saß.“
Für Anna Sapko waren diese Erfahrungen in ihrer Gastfamilie lebensbestimmend. Nach dem Lehramtsstudium kam sie mit 21 Jahren nach Deutschland mit 50 Euro in der Tasche. „Ich habe dann noch einmal Germanistik studiert und gearbeitet.“ Sie hat gekellnert und auf Kinder aufgepasst, Autoteile geprüft und gecatert. Als sie einmal auf einer Messe putzte, sah sie dort die Hostessen stehen und dachte: „Irgendwann stehst du da. Und so war es auch.“
„Deutschland hat das Leben meiner Mutter gerettet“
Anna Sapko arbeitet längst als Vertretungslehrerin an einer Duisburger Gesamtschule und leitet Tanzkurse in Köln: „Meine Schwester ist vor fünf Jahren ebenfalls nach Oberhausen hergezogen. Darum ist mein Neffe, der nun 22 Jahre alt ist, nicht im Krieg. Als dieser ausbrach, kam auch meine Mutter. Deutschland hat ihr das Leben gerettet, sie hatte Krebs und wäre in der Ukraine längst gestorben.“
„Ich habe immer noch viele Pläne“, sagt sie. „Ich will meinen Führerschein machen, ein Auto haben, vielleicht eine Online-Sprachschule eröffnen.“ (Sie spricht Deutsch, Ukrainisch, Russisch, Englisch, Italienisch, Polnisch und ein paar Brocken Chinesisch.) „Man ist in Deutschland nie zu alt für Träume. Irgendwann möchte ich ein Haus haben, in dem viele Katzen wohnen.“ Anna Sapkos verstorbene Katze hieß Lilli – nach der Figur aus dem Tabaluga-Musical, das sie mit der Multi in Oberhausen besuchte.
Exaucé Kiaku
„Nie hätte ich gedacht, dass mir zum Abschied die Tränen kommen“, sagt Exaucé Kiaku. „Wir hatten doch nur zwei gemeinsame Wochen. Aber bei der Abfahrt habe ich gedacht: Hier kommen Menschen zusammen, die dich weiterbringen wollen. Ich will auch dieses große Herz haben.“
Exaucé Kiaku wurde vor 28 Jahren in Meschede geboren, wo seine Familie in einem Flüchtlingsheim wohnte. Die Eltern waren aus dem Kongo geflohen. 2010 war seine erste Multi: „Am Sozialtag sollten wir eine Schule streichen. Offenbar machte ich das ganz gut, denn einer der ehrenamtlichen Teamleiter bot mir einen Ausbildungsvertrag an. Man hatte mich bemerkt.“
„Ich bin mit meinen Eltern nach Frankreich gezogen, als ich 16 war, aber ich war trotzdem noch mehrfach bei der Multi dabei. Wir waren auch in Rumänien. Als wir dort eine Uni besuchten, sagte unser Leiter Marc, der heute die Multi leitet, zu mir: Exo, halt du doch lieber die Rede. Da standen 200, vielleicht 300 Studenten, und ich war überhaupt nicht vorbereitet. Aber Marc hat an mich geglaubt. Und ich kann heute sagen: Ich habe an einer Uni in einem fremden Land gesprochen.“
„Die Freundschaften, die bei der Multi entstanden sind und mein Traum hier selbst mal als Ehrenamtlicher zu helfen, waren ein wichtiger Punkt für mich, nach meinem Business-Management-Studium in Frankreich wieder nach Deutschland, und vor allem nach Oberhausen zu ziehen. Meine Wohnung habe ich übernommen von einer Lehrerin aus der Ukraine, die ich dort als Austauschschüler kennengelernt habe.“