Dortmund. Kulturerbe und Mythos, Begegnungsort und Trinkertreff – ein Kiosk ist vieles. Kann er sogar die Gesellschaft zusammenbringen?
Am Samstag feiert das Ruhrgebiet den Tag der Trinkhallen. Und die Frage steht im Raum: Können Trinkhallen Zusammenhalt schaffen – in der Nachbarschaft, können sie gar gesellschaftlich wirken? Oder ist das nur ein Mythos – und das Feierabendbier der Bergleute ist heute einfach: Trinkerszene? Eine Studie der Technischen Universität Dortmund fragt nun genau das: Was kann uns die Bude geben? Darüber haben wir mit Alexander Röhm gesprochen, einem der vier Studienleiter.
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„Es gibt in Dortmund eine große sri-lankische Gemeinschaft“, sagt Röhm. „Und wenn vor einem Kiosk ein Schild in Singhalesisch oder Tamil steht, kann das ein erster Anknüpfungspunkt sein.“ Röhm hat schon viele Stunden in Buden zugebracht und Interviews geführt. „Einmal habe ich erlebt, wie ein bulgarisches Ehepaar in ein indisch geführtes Büdchen kam. Kunden und Betreiber haben sich dann auf russisch unterhalten.“
Der Kiosk ist ein „glokales Phänomen“, erklärt Röhm. Also global und lokal zugleich – oder anders gesagt: Im Büdchen spiegelt sich die Welt. Drei Viertel aller Betreiber haben mittlerweile eine Zuwanderungsgeschichte. Und sie bieten etwas, das Neuangekommene woanders kaum finden: ein Angebot in ihrer Sprache, ein Gespräch mit Menschen aus einer vertrauten Kultur, Kontakt mit der Landesgemeinschaft. In der Bude hängen Angebote für ghanaische Caterings und Gottesdienste, Bargeld wird über Dienstleister nach Eritrea oder Bochum geschickt, zur Handykarte gibt‘s gleich die Beratung. Und natürlich gibt‘s Getränke, Konserven, Gewürze aus der Heimat. In einem Büdchen, schätzt Röhm, besteht das Sortiment zu 80 Prozent aus bulgarischen Produkten. „Bier und Zigaretten sind aber überall die Basis. Ein Kioskbetreiber weiß, dass ein Kunde nicht wiederkommt, wenn man seine Zigarettenmarke nicht im Angebot hat.“
Das haben die Wissenschaftler der TU Dortmund schon in einer ersten Studie 2023 untersucht. Nun wollen sie nachlegen. „Bude inklusiv“ ist eines der „150 Projekte für das Ruhrgebiet“, die die „Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung“ zum Jubiläumsjahr der Villa Hügel fördert.
Kann die Trinkhalle behinderten Menschen helfen?
Eigentlich könnte das Büdchen auch ein ideales Angebot für benachteiligte Gruppen sein, glaubt Röhm. Der große Pluspunkt ist die Nähe zum Wohnort. Kurze Wege sind für gehbehinderte Menschen eine Erleichterung, ebenso die oft gegebene Ebenerdigkeit. „Es gibt auch eine direkte Ansprechperson, die einem ein Produkt suchen kann“, sagt Röhm. Aber wird der Kiosk auch so genutzt? Sind diese theoretischen Vorzüge allen Beteiligten klar. Auch das wollen die Forscher nun herausfinden.
Alkoholsucht ist natürlich auch ein Thema. „Natürlich ist es nicht optimal, wenn man sich an der Trinkhalle mit Schnaps versorgt. Aber die Person würde sich den Alkohol auch woanders kaufen. Und vielleicht ist die Trinkhalle der vertraute Ort, an dem sie das tun kann, ohne abgewertet zu werden.“ Alexander Röhm und seine Kollegen forschen übrigens in der Fakultät „Rehabilitationswissenschaften“, die sich sonst um den Umgang mit Behinderungen und chronischen Krankheiten kümmert.
Vernetzung könnte helfen
Sie wollen die Kiosklandschaft kartieren: Gibt es das viel zitierte Kiosksterben überhaupt oder ist die Bude im Aufwind? Welche Sprachen werden wo gesprochen? Kann man die Buden-Inhaber miteinander vernetzen? „Unter den Betreibern von Imbissbuden gibt es einer große Vernetzung“, sagt Röhm. „Man hilft sich zum Beispiel mal aus beim Einkauf. Bei den Kioskbetreibern scheint es das nicht zu geben“ – obwohl es gerade für sie mit ihren enormen Arbeitszeiten und manchmal prekären Einkommen eine Entlastung bedeuten würde. Vielleicht könne man auch die Wirtschaftsförderung ins Boot holen, sagt Röhm. Der Kiosk als Kulturerbe ist schließlich Sympathieträger.
Realität versus Mythos
Der Mythos Büdchen lebt – er wird ja auch aktiv gefördert. 2020 hat das Land NRW die Trinkhallenkultur im Ruhrgebiet zum Kulturerbe erhoben. Begründung: „Der soziale Zusammenhalt spielt eine zentrale Rolle: Trinkhallen nehmen als typische Treffpunkte eine wichtige Funktion für die Nachbarschaft ein und stellen Orte der Integration und des Austausches dar.“ Am 17. August können wir das wieder feiern beim „Tag der Trinkhallen“. Dann machen ausgewählte Kioske Programm mit Musik, Kleinkunst und kreativen Aktionen. Die Bude wird also durchaus als touristisches Kapital wahrgenommen.
Natürlich gibt es Buden, die genau so ausgerichtet sind, die sich schick machen. Andere stellen Tische und Bänke auf, entwickeln sich zur Gastronomie. Der bekannte „Bergmann Kiosk“ im Westen der Dortmunder Innenstadt macht beides, allerdings ist hier das sonstige Angebot eher Beiwerk zum Hauptprodukt: dem Bergmann Pils aus der eigenen Brauerei. Ein Sonderfall.
Die Realität sieht für viele Betreiber anders aus. Es ist kein Zufall, dass die Betreiber zunehmend Migranten sind. Hier hilft oft die Familie. Und man ist bereit, für wenig Geld viel zu arbeiten. Aber ist das nicht Selbstausbeutung? Röhm zögert. „Von außen könnte man sagen: Die arbeiten 80 bis 100 Stunden in der Woche und kommen gerade über die Runden. Aber was dem entgegensteht, ist das, was die Betreiber mit dem Kiosk verbinden.“ Sie erleben ihn als Chance, sich aus eigener Kraft eine wirtschaftliche Existenz aufzubauen. Sie merken, dass sie eine Rolle spielen in der Nachbarschaft, dass sie zu Vertrauenspersonen werden. Und vielleicht fördern die Trinkhallen auch auf diese Weise das Zusammenwachsen. Das gilt es zu erforschen.