Ruhrgebiet. Ist Schweigen einfacher als Erklären? Immer mehr Menschen sehen das so: beim Dating, im Job, in Freundschaften. Aber sie liegen falsch.
Plötzlich war er weg. Mein Freund Gabriel redete einfach nicht mehr mit mir, ohne Anlass, ohne Warnung. Er behandelte mich wie einen Geist. Vor fünf Jahren war es für mich eine neue Erfahrung, „geghostet“ zu werden. Seitdem widerfährt es mir immer häufiger: Wenn ich etwas über Kleinanzeigen verkaufe, kommen Interessenten einfach nicht. Ab und an helfe ich meinen Eltern bei einer Vermietung, auch hier ist das plötzliche Ende jeder Kommunikation nun Standard. Studien stützen meine Eindrücke. Vom Dating bis zum Einstellungsgespräch: Schweigen statt Erklären ist die neue Unkultur. Sie greift in alle Lebensbereiche und produziert Stress – für Opfer wie Täter.
Gabriel stand am Mischpult, als wir uns vor zwölf Jahren bei einem Konzert kennenlernten. Er wurde mein Gitarrenlehrer und die Unterrichtsstunden wurden immer länger, weil wir uns über Musik und die Welt, den Beruf und die Liebe unterhielten. Das letzte Mal sah ich Gabriel, als wir mit unseren Freundinnen eine Wanderung am Baldeneysee unternahmen. Dann war plötzlich Funkstille.
Das unheimliche Schweigen
Anrufe landeten auf der Mailbox. Meine Nachrichten über WhatsApp und Messenger las er offenbar noch zwei Jahre lang ... Dann nicht mal mehr das. Mai 2019: Huhuuuuu! Erde an Gabiiiiieee 😉. Oktober 2020: Hey Gabi, ho Gabi, hey? Lass doch mal wieder ein Bierchen trinken oder so. Juli 2021: Hey, meld dich mal. Mach mir schon ein bisschen Sorgen. August 2022: Guckuck, immer noch abgetaucht? (Ungelesen.)
Ich habe versucht, den einseitigen Abbruch unserer Freundschaft nicht persönlich zu nehmen, auch weil ich weiß, dass Gabriel an Depressionen leidet. Aber bis heute ist es für mich unvorstellbar, warum ihm die Freundschaft nicht eine kurze Nachricht wert war: „Sorry, ich muss mich gerade um mich kümmern.“ So etwas hätte doch nur zehn Sekunden gekostet. Ich bin nicht hingefahren, eine Konfrontation fand ich unpassend. Gabriels Ex-Freundin versicherte mir, ihm gehe es gut. Das wisse sie von seinen Eltern, denn auch die Ex hat er geghostet.
Ungewöhnlich ist dieses Verhalten allerdings nicht mehr, Depression hin oder her. In einer repräsentativen Umfrage von YouGov gab schon im Jahr 2021 ein Viertel der Leute an, mal jemanden geghostet zu haben (Freundin oder Freund: 12%, ein Familienmitglied: 6%, ein Date: 7%). Je jünger die Befragten waren, desto krasser die Ergebnisse: Bei den 18- bis 24-Jährigen waren es schon drei Viertel, die jemanden geghostet haben. Also: Ghosting wird weiter wachsen – und zwar rasant.
Keine Frage des sozialen Status
Vor wenigen Monaten habe ich eine Besichtigung organisiert: eine kleine Wohnung, die eher für Studenten und andere Singles interessant ist. Drei von acht Interessenten versetzten mich vor Ort und waren nicht mehr erreichbar. Einem jungen Mann hätte ich die Wohnung gern gegeben, er verantwortete Etats an einer Uni. „Ich nehme die Wohnung auf jeden Fall. Ich unterschreibe sofort“, sagte er. „Schlafen Sie noch mal drüber. Das ist immer besser“, sagte ich. War auch besser. Wer will schon Mieter, die einfach nicht mehr ans Telefon gehen?
Ghosting ist ein Kostenfaktor für die meisten Arbeitgeber. Das Job-Portal Indeed beauftragt in den USA regelmäßig Studien dazu. Demnach ist Ghosting 2017 das erste Mal größer aufgetreten. Zwei Jahre später waren schon 83 Prozent aller Unternehmen betroffen. Seitdem hat sich das Problem von Jahr zu Jahr intensiviert. Im Report von 2023 gaben 78 Prozent aller Bewerber an, schon mal ein Unternehmen geghostet zu haben. Die Zahlen liegen in Deutschland noch viel niedriger (bei zehn Prozent), der Trend ist der gleiche. Auch ich hatte mal mit einer jungen Kollegin zu tun, die halbfertige Arbeit hinterlassen hat. In diesem Fall verhielt eher sie sich wie ein Geist.
Die Mehrheit der Bewerber bereut ihren Kommunikationsabbruch. Ein wachsender Anteil fühlt sich sogar schuldig, beklommen, gestresst oder beschämt. Fast ein Viertel verspürt aber auch ein Machtgefühl. Wahrscheinlich mischen sich all diese Empfindungen, denn die Zahl derer, die auch in Zukunft bei der Jobsuche ghosten wollen, steigt – trotz der negativen Emotionen. Das zeigt: Der ein oder andere Akteur mag reifen. Das Phänomen wird sich aber nicht auswachsen.
Woher kommt der „Erfolg“?
Ist Ghosting also eine „ökonomische“ Entscheidung? Die digitale Kommunikation verführt zu einem radikaleren Verhalten – weil man noch nie so schnell mit so vielen Menschen Kontakt aufnehmen konnte (vor allem beim Dating) und weil die schiere Menge an Kommunikationsschnipseln überfordern kann. Der Gesprächspartner wird schneller zur Nummer. Andererseits dürfte es weniger aufwändig sein, eine Absage in einem Satz zu schreiben, als ständig Fragen auf dem Smartphone aufpoppen zu sehen oder jemanden auf allen Kanälen zu blocken. Ghosting scheint in Emotionen zu gründen.
Es kann rational sein, den „Markt auszuchecken“, aber wenn man sich dabei außerhalb jeder Norm verhält, sind wahrscheinlich wieder Gefühle im Spiel: Zum Beispiel bewirbt sich jeder dritte Arbeitnehmer aus Frust woanders. Dafür gibt es sogar ein Wort: „Rage Applying“ – Wutbewerbung. Und kommen dann Jobangebote, reagieren zehn Prozent gar nicht darauf, hat eine Krankenkasse-Umfrage ergeben. „Vergeltung“ mag eine Rolle spielen, denn Arbeitgeber oder Vermieter beantworten auch oft nicht jede Anfrage. Es ist jedenfalls kein Zufall, dass Ghosting grassiert in einer Zeit, die geprägt wird von Inflation und Einsamkeit, Hass-Postings und populistischer Spaltung.
Vor allem leiden die Opfer. Bricht ein Flirtpartner beim Dating den Kontakt ab, fühlen sich viele verwirrt und herabgesetzt. Das kratzt am Selbstwertgefühl, einige entwickeln Misstrauen. Aber wenn man plötzlich für die große Liebe nur noch Luft ist, dann verändert dies das Leben. Eine Freundin ist seit drei Jahren in Psychotherapie, weil ihr genau das passiert ist. Warum, weiß sie bis heute nicht. Ich habe den Ex nur einmal getroffen, ein erfolgreicher Unternehmer. Er wird das Verdrängen einfacher finden, als das Erklären. Aber ich finde es nur schwer vorstellbar, dass er nicht auch unter dem ungelösten Konflikt leidet.