Essen. Alarmierende Zahlen: In NRW gibt es die meisten Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch. Wie man Betroffene erkennt – und ihnen helfen kann.

  • In keinem anderen Bundesland wurden 2023 so viele Kinder und Jugendliche missbraucht wie in NRW.
  • Das zeigt das neue Lagebild des Bundeskriminalamtes.
  • Wie Mediziner eine Kindeswohlgefährdung feststellen – und wie man selbst mit Betroffenen über sexuellen Missbrauch sprechen kann.

In keinem anderen Bundesland werden so viele Fälle von sexuellem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen registriert wie in Nordrhein-Westfalen. Laut dem neuen Lagebild des Bundeskriminalamtes ist die Zahl der erfassten Fälle in NRW im vergangenen Jahr auf 5065 gestiegen. 2022 waren es noch 4133. Das liegt nicht nur daran, dass hier die meisten Menschen leben. Auch im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung zählt das Land überdurchschnittlich viele Tatverdächtige (28 pro 100.000 Einwohner).

Insgesamt ist die Zahl der Fälle sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen in Deutschland im vergangenen Jahr deutlich gestiegen. 16.375 Fälle wurden 2023 registriert, 5,5 Prozent mehr als im Vorjahr. „Jeden Tag werden in Deutschland 54 Kinder und Jugendliche Opfer von sexuellem Missbrauch“, sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser am Montag (8. Juli).

Allerdings dürften noch deutlich mehr Kinder betroffen sein, im Lagebild wird ausdrücklich auf ein hohes Dunkelfeld hingewiesen. So geht die Bundesregierung davon aus, dass etwa ein bis zwei Schüler in jeder Schulklasse von sexueller Gewalt in und außerhalb der Familie betroffenen waren beziehungsweise sind. 

Sexuelle Gewalt: Kinderschutz ist kein Teil der medizinischen Ausbildung

Wenn es um Kindesmissbrauch geht, gibt es in Deutschland zwei grundlegende Probleme: Zum einen ist Kinderschutz kein Teil der medizinischen Ausbildung. Das führt oft zu Unsicherheiten bei Ärztinnen und Ärzten. Zum anderen ist die Zusammenarbeit – etwa zwischen Jugendamt, Kliniken, Schulen, Kindergärten – oft schwer. „Es gibt immer Fälle, die durchs Netz gefallen sind, weil das Netzwerk nicht gut funktioniert hat“, sagt Hannah Iserloh, Pressesprecherin der Vestischen Kinder- und Jugendklinik in Datteln.

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Die Klinik ist die größte Einrichtung für medizinischen Kinderschutz in der Region. Seit fünf Jahren zählt sie zum „Kompetenzzentrum Kinderschutz im Gesundheitswesen“ in NRW. Dieses hatte die Landesregierung nach dem Missbrauchs-Skandal auf einem Campingplatz in Lügde gegründet.

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Kindeswohlgefährdung? 1000 Vorstellungen pro Jahr in Dattelner Klinik

Mittlerweile schicken Jugendämter und Ärztinnen und Ärzte aus ganz NRW Kinder und Jugendliche gezielt nach Datteln, um abzuklären, ob aus medizinischer Sicht eine Gefährdung des Kindeswohls vorliegt oder nicht. Rund 1000 solcher Vorstellungen zählt die Klinik pro Jahr.

Die Ärztinnen und Ärzte gehen dabei nach einer Art Ausschlussverfahren vor, erklärt Hannah Iserloh. Kommt eine organische Erkrankung in Frage? Kann ein Unfall Ursache der Verletzungen sein? Lassen sich die Symptome also anders als durch Fremdeinwirkung erklären? Um diese Fragen zu klären, würden die Mediziner einer strengen medizinischen Leitlinie folgen.

Wird keine andere Ursache gefunden, gehe es immer darum, das Kind zu schützen. In vielen Fällen bedeutet das: Die Ärzte sind verpflichtet, das Jugendamt einzuschalten, das dann wiederum über eine Inobhutnahme entscheidet.

So spricht man mit Kindern über sexuellen Missbrauch

Doch wie lässt sich mit Kindern und Jugendlichen selbst am besten über das sensible Thema sprechen? „Dass täglich 54 neue Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen registriert werden, ist erschreckend und sollte uns als Bevölkerung dazu aufrufen, in unserem Umfeld hinzuschauen und uns intensiv mit dem Thema auseinanderzusetzen“, sagt Diplom-Pädagogin Ursula Enders von „Zartbitter“. Der Kölner Verein ist eine Kontakt- und Informationsstelle gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen und Jungen und beschäftigt sich schon seit Jahrzehnten mit dem Thema. 

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In erster Linie sei es wichtig, sich den Kindern und Jugendlichen im eigenen Umfeld als Vertrauensperson anzubieten und zu signalisieren, dass man keine Scheu hat, offen über sexuelle Übergriffe zu sprechen. Laut Enders gibt es keine Anzeichen, die explizit auf sexuelle Gewalt hindeuten. Aber: „Gerade Kinder sprechen viel über alltägliche Grenzverletzungen, die sie erleben“, sagt sie. Deshalb sei es wichtig, genau hinzuhören und ihre Geschichten nicht direkt als Fantasie abzutun.

Diplom-Pädagogin Ursula Enders vom Kölner Verein „Zartbitter“ setzt sich gegen sexuellen Missbrauch an Kindern ein.
Diplom-Pädagogin Ursula Enders vom Kölner Verein „Zartbitter“ setzt sich gegen sexuellen Missbrauch an Kindern ein. © FUNKE Foto Services | Marius Becker

Jugendliche vertrauten sich meist gleichaltrigen Freundinnen und Freunden an. „Über sie werden die meisten Fälle des Missbrauchs aufgedeckt, auch hier ist es wichtig, dass Eltern und pädagogische Fachkräfte genau hinhören.“ Zudem rät sie, bei einer Vermutung nicht direkt die Eltern des betroffenen Kindes zu informieren. Das könne riskant sein, da die Eltern, sofern sie in den Missbrauch verwickelt sein sollten, das Kind zum Schweigen bringen können. Oder aber es bestehe die Gefahr, die Eltern und die Familie zu stigmatisieren und ihnen ein Fehlverhalten zu unterstellen, was sie nicht begangen haben. „Sexuelle Gewalt findet weniger häufig in der Familie als in Kitas, Schulen oder Sportstätten statt – vielfach durch andere Kinder und Jugendliche“, sagt Enders.

Aus Angst, durch falsche Anschuldigungen das Leben der Familien zu zerstören oder sie zu stigmatisieren, neigen viele zur Vorsicht und behalten ihren Verdacht für sich. Enders rät, sich im Falle eines Verdachts direkt an eine Fachberatungsstelle zu wenden. Hier wurden vom Land NRW 150 neue Stellen eingerichtet. Zudem bieten Vereine wie Zartbitter oder Hilfetelefone schnelle Unterstützung.

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In Kitas und Schulen brauche es für Pädagoginnen und Pädagogen derweil dringend praxisnahe Fortbildungen. Zudem müssten die Fachberatungsstellen in NRW in der Bevölkerung bekannter werden. Enders: „Unsere Gesellschaft ist heute deutlich sensibilisierter als noch vor 20 Jahren. Das sollten wir als Chance nutzen, um die Kinder und Jugendlichen vor den Spätfolgen solcher Gewalt zu schützen.“

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