Essen. Jener Terrorist, der in Duisburg Menschen niedergestochen hat, hat uns den „IS-Finger“ gezeigt. Tut das nun auch DFB-Star Rüdiger?
143 Menschen sind bei dem jüngsten Terroranschlag in Moskau ums Leben gekommen. Es dauerte nicht lange, bis der „Islamische Staat“ (IS) die ebenso feige wie menschenverachtende Tat für sich reklamierte, auch wenn es den einen IS schon längst nicht mehr gibt. Was nahezu alle islamistischen Terroristen allerdings vereint, ist der mit stolzer Bestimmtheit in die Kamera gehaltene, nach oben gerichtete Zeigefinger. Auch nach der Moskauer Attacke war die als „IS-Finger“ bekannte Geste zu sehen, die an den strengen Lehrer erinnert, der die störenden Schüler um Aufmerksamkeit bittet.
Islamismus in der Startelf?
Im islamistisch-terroristischen Kontext kennen wir den Fingerzeig etwa auch von Anis Amri, dem Amokfahrer vom Berliner Weihnachtsmarkt, oder von dem Syrer Maan D., der nach seinen Messerattacken in Duisburg auf Unschuldige inzwischen rechtskräftig zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Während des Prozesses vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf hatte der Mörder nur seinen rechten Zeigefinger sprechen lassen – eine Verhöhnung der Opfer, des Gerichts und der gesamten Gesellschaft.
Und nun Antonio Rüdiger. Antonio Rüdiger? Unser wiederentdeckter Abwehrheld, der mit der deutschen Nationalmannschaft nach zwei überraschend guten Spielen in den Augen der Übereuphorisierten den Titel des Fußball-Europameister im Sommer schon so gut wie sicher hat? Was ist passiert?
Der 31-Jährige hat sich zum Beginn des muslimischen Fastenmonats Ramadan in einem Instagram-Post im weißen Gewand auf einem Gebetsteppich gezeigt und den rechten Zeigefinger gen Himmel gestreckt. Dabei schaute er, als luchse er dem französischen Weltmeister Kylian Mbappé mit humorloser Entschlossenheit gerade den Ball ab. Aber um Fußball ging es hier nicht.
Was hat sich Rüdiger dabei gedacht?
Ganz ehrlich: Ich finde das Bild verstörend. Was genau soll die Botschaft sein? Und was glaubt der Absender, wie ein solches Foto beim Empfänger ankommt – dem Durchschnitts-Deutschen, für den der Islamismus mit all seinen Symbolen und seinem Schrecken eine verachtenswerte Bedrohung darstellt? Was hat sich Rüdiger dabei gedacht? Hat er sich überhaupt etwas gedacht dabei?
In jedem Falle hätte Rüdiger wissen können und müssen, dass ein solcher Post ein gefundenes Fressen für rechte Publizisten ist, die sich mit dem Hoch- und Runterschreiben von Menschen, mit dem genüsslichen Aufreißen von Gräben und dem Schüren von Hass bestens auskennen. Es war so sicher wie das Amen in der Kirche, dass einer wie Ex-„Bild“-Chef Julian Reichelt, nach seinem Rauswurf bei Springer abgestiegen bis an den Rand der völligen Bedeutungslosigkeit, sich auf den schlimmen Finger Rüdiger(s) mit Wonne stürzen würde. In seinem rechtspopulistischen Portal „Nius“ legte er jetzt nach: Es sei „schwer vorstellbar“, schreibt Reichelt, „dass Antonio Rüdiger (...) den Gruß der Islamisten zeigt, und das alles mit Islamismus aber rein gar nichts zu tun haben soll“. Rüdiger, der deutsche Startelf-Abwehrchef, ein Islamist?
Macron mit Schuhabdruck im Gesicht
Der in Berlin geborene Ausnahmespieler mit mütterlichen Wurzeln in Sierra Leone ist in diesem Kontext schon einmal unangenehm aufgefallen, als er vor rund dreieinhalb Jahren einen islamistischen Post likte, der ein Foto von Emmanuel Macron mit einem stilisierten Schuhabdruck im Gesicht zeigte – garniert mit Flüchen gegen den französischen Präsidenten, der den Islam beleidigt haben soll. Später distanzierte sich Rüdiger von dem Post und seinem Like mit den Worten: „Wenn es ein übergeordnetes Thema in meinem Leben gibt, dann der Kampf gegen Gewalt und Rassismus.“
Auch diesmal, nach der Reichelt-Attacke, hat sich Rüdiger erklärt. Er distanziere sich „von jeglicher Art von Extremismus“, ließ er jetzt verlauten. Er lasse sich nicht „als Islamist verunglimpfen“. Und um diese Position zu erhärten, zeigte der Nationalspieler den Ex-„Bild“-Chef bei der Staatsanwaltschaft in Berlin an – und der Deutsche Fußball-Bund (DFB) meldete die Sache bei der Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität. Ist Reichelt nicht nur ein Schmierenjournalist, sondern ein Internet-Krimineller?
Es fällt nicht leicht zu entscheiden, wer hier nicht mehr alle Tassen im Schrank hat: Rüdiger, Reichelt und/oder der DFB. Der Reihe nach:
Nius? Schnell wieder vergessen!
Reichelt fährt eine boulevardeske Kampagne gegen Rüdiger. Das ist billig, aber effektiv, und erfreut vor allem die AfD und ihre Anhänger. „Nius“, sonst keiner Rede wert, leuchtet insofern einmal kurz auf und verglüht dann wieder schnell. Auf der Nicht-mehr-alle-Tassen-im-Schrank-Skala gebe ich Reichelt eine „8“ von „10“.
Der DFB derweil ist aus früheren Vorgängen (denken wir nur an die Affäre rund um Mesut Özil, Ilkay Gündogan und den Diktator vom Bosporus, Recep Tayyip Erdogan) nicht klüger geworden und hat sich somit immerhin eine „7“ von „10“ verdient. Statt auch den eigenen Spielern im Hinblick auf ihren Vorbildcharakter und ihre öffentliche Reichweite die DFB-eigenen Werte besser zu vermitteln und sie zu beraten und zu begleiten, wenn es mal zu Fehltritten oder Missverständlichkeiten kommt, rührt man zur Abwehr von Angriffen Beton an und provoziert dann den Vorwurf, man wolle Kritiker mundtot machen. Das bedient das rechte Narrativ, in Deutschland dürfe man nicht mehr sagen, was man denke. Schlau geht anders.
Das bedeutet der Tauhid-Finger
Bei Rüdiger ist die Sache komplizierter. Vor einem Urteil muss man sich die in Rede stehende Geste genauer ansehen. Rüdiger selbst hat ja inzwischen zurecht darauf hingewiesen, dass der in den Himmel zeigende Finger ein uraltes Symbol für die Einzigartigkeit Gottes ist („Tauhid-Finger“) und in diesem religiösen Zusammenhang auch von den deutschen Sicherheitsbehörden als unbedenklich eingestuft wird. Tatsächlich geht die Geste auf den Religionsstifter Mohammed selbst zurück, der bei einem Gebet den rechten Zeigefinger in die Höhe gestreckt haben soll. Gläubige Muslime tun dies daher regelmäßig, wenn sie beten – allerdings in der Regel unbeobachtet im stillen Kämmerlein, ins Gebet versenkt, ohne jede demonstrative Inszenierung.
Ambivalent ist das Symbol durch den Ge- und Missbrauch der Islamisten geworden. Sie haben für sich und ihre Zwecke bemerkt, dass der Finger nicht nur auf die Einzigartigkeit Gottes verweist, sondern auch den Zeigenden selbst herausstellt. Durch die mahnende Geste erheben sich Islamisten über jene, denen sie sich präsentieren, und wollen ihnen sagen, dass nur sie im Besitz der Wahrheit sind und dass jene, die dem nicht folgen, als Ungläubige und Unwissende verurteilt werden. Damit erhält die Geste etwas Autoritäres, zutiefst Intolerantes. Sie markiert einen entschlossenen, rücksichtslosen, im Zweifel brutalen Machtanspruch. Dem Finger selbst sieht man nicht an, ob er nur auf sich bezogen religiös oder ob er totalitär gemeint ist. Auf den Kontext kommt es an.
Rüdiger ist kein Islamist
Ich denke, Rüdiger ging es um die religiöse Geste ohne jeden totalitären Anspruch. Er ist kein Islamist. Er hat dies auch auf plausible Weise klargestellt. Zurecht hat er zugleich auf sein Versäumnis hingewiesen, sein Posting von Anfang an so einzuordnen, dass keine Missverständnisse entstehen können. Er sei da nicht aufmerksam genug gewesen, gab er nun zu Protokoll. Nun ja, ich finde, er könnte da noch selbstkritischer sein. Ein, zwei Tassen – die fehlen auch in seinem Schrank.
Aber in wessen Schrank fehlen die nicht?
Frohe Ostern und auf bald.
Klartext als Newsletter
Wer die Klartext-Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ, nicht verpassen möchte, kann den kostenlosen Newsletter bestellen. Klartext: Hier werden politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen – um Klartext eben.
Klartext als kostenloser Newsletter? Hier anmelden!
Alle Folgen der Kolumne finden Sie hier.