Ruhrgebiet. Fußballtraining ohne Druck und ohne Jungs: Das Projekt „Mädchen an den Ball“ soll ihr Selbstbewusstsein stärken. Warum so viele mitmachen.

Eine Viertelstunde zu früh sind die ersten gekommen, dann sind es schon acht Mädchen, ganz schnell 14, 19, 26, und die weiter wachsende Zahl macht es schwierig mit dem großen Kreis. Zu dem sollen sich die Kinder anfangs aufstellen in der Mitte des Platzes, und Trainerin Carina Becker hilft etwas nach: dass alle mit vorne stehen und kein Mädchen im Schatten, in der zweiten Reihe. Von Anfang an nicht.

„Guckt mal, da kommen noch mehr Mädels!“

Kurz vorher hat es auf dem Kunstrasen-Kleinfeld des VfL Hörde noch ausgesehen wie immer auf den Plätzen: Dreizehn jugendliche Jungs spielen Fußball, zwei Mädchen schauen zu. Doch am Fanggitter hängt bereits ein großes Transparent, auf dem eigentlich alles steht, was man wissen muss: „Mädchen an den Ball. Kostenloses Fußballtraining nur für Mädchen. Kommt einfach vorbei und spielt mit!“ Da sind dann Jungs die Geschwisterkinder, die am Rande stehen.

Erste Standorte in Bochum und in Dortmund

Zwei Stunden dauert das Training. Die Mädchen können aber auch später kommen oder früher gehen.
Zwei Stunden dauert das Training. Die Mädchen können aber auch später kommen oder früher gehen. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

„Mädchen an den Ball“ hat sich nicht der VfL Hörde ausgedacht, sondern das ist ein Projekt, das in München entstanden ist und sich gerade in Deutschland ausdehnt. „Bildung und Kultur e.V.“, ein Verein für Jugendhilfe, hat damit vor vier Jahren begonnen, hat es auf Augsburg erweitert, im Herbst 2022 auf Bochum und Mitte April auf Dortmund: „Mädchen an den Ball.“ Weitere Städte aus dem Ruhrgebiet werden noch folgen.

Die Mädchen zwischen sechs und 16 Jahren machen sich warm mit einem speziellen Fangen, bei dem eine jede Fängerin ist - ja, das geht. Jede hat jetzt ihren Ball, pendelt damit und kickt, und wenn Trainer Patrick Berens „Feuer“ ruft, dann müssen sie schnellstens vom Platz rennen - mit dem Ball am Fuß, versteht sich. „Probier’s einfach“, sagt er der ersten beim Pendeln, „Du kannst das!“ einer zweiten beim Dribbeln; „Klasse!“, „Super!“ der dritten - soviel Lob muss sein.

„Für Mädchen gibt es zu wenig Angebote“

Denn „Bildung und Kultur“, das kann man sich schon denken, geht es gar nicht in erster Linie um Fußball, Torhüterinnen, Mittelstürmerinnen. Sondern um Teamfähigkeit und Integrationsbereitschaft und andere überlange Substantive, kurz gesagt um: weibliches Selbstbewusstsein. „Jungs spielen überall im öffentlichen Raum, für Mädchen gibt es zu wenig Angebote“, sagt die Sozialpädagogin und Projektleiterin Anna Seliger. Mädchen müssten im öffentlichen Raum präsenter werden, gegenwärtiger, selbstverständlicher.

„Wer war denn letztes Mal schon dabei?“, fragt Carina Becker. Die meisten Hände gehen hoch. „Und was hat euch am meisten Spaß gemacht?“ „Das Spielen!“ „Wie man die Bälle hochhält“, sagt später ein Mädchen, „Das Passen“, „Tore schießen“. Johanna und Annetta und Pauline, Eirin, Eileen und Siren, Helene, Lea, Mia und all die andern haben ihren Heidenspaß. Berens ruft „Feuer“, Mädchen zeigen Feuereifer. Ohne Vereinsbindung, ohne Kosten, ohne Jungs.

Vereine hoffen, dass sich aus dem Projekt Mädchen-Teams entwickeln

Auch in Herne wird es das geben, Düsseldorf und Essen sind ebenfalls interessiert. Die Sportwissenschaftler der Ruhr-Uni Bochum begleiten das Projekt, Evonik und Viactiv sind Sponsoren, die Städte bezahlen mit. 15.000 Euro pro Jahr und Standort, rechnet Anna Seliger in dem jeweiligen Sportausschuss gerne vor - was wenig ist für ein Jugendhilfe-Projekt. „Mädchen an den Ball ist auch eine Metapher“, sagt die 63-Jährige: „Für: Mädchen legt los, Mädchen, traut euch! Seid stark und mutig!“ Den Weg über den Fußball hat „Biku“ gewählt, „weil man damit die meisten Kinder anspricht“.

Die Fußballvereine stellen Trainerinnen, Plätze, Bälle und Hütchen und haben tatsächlich noch etwas anderes im Kopf als Sozialpädagogik: eventuelle Mädchenteams. „Sollte sich das im Kauf der Zeit herauskristallisieren, ist das Interesse natürlich da“, sagt Gerd Martinschledde aus dem Vorstand des VfL Hörde.

15 bis 20 Mädchen kamen jede Woche selbst bei Frost und Regen

Und Trainer Patrick Berens, der eigentlich vom BV Hiltrop aus Bochum kommt, sagt: „Der BV würde es sich wünschen, endlich mal eine Mädchen-Mannschaft zu haben. Das typische ,Wir suchen dich’, auf Flyern verteilt“, funktioniere nicht mehr. Immerhin: Selbst im Winter seien jede Woche „15 bis 20 bei Frost und bei Regen“ zu „Mädchen an den Ball“ gekommen.

Frei von Leistungsdruck, ohne Stress um Aufstellung, Trainingszeiten und Spieltermine, betreut von vier Trainerinnen und einem Trainer. An einem Standort wie Dortmund, schätzt Seliger, werde man hunderte Mädchen erreichen. An diesem Nachmittag beim VfL Hörde sind es 38. Endlich, sie spielen. Sie spielen, wie Minis, wie Anfänger und Anfängerinnen eben spielen: alle hinter dem Ball her. Aber es macht so einen Spaß. Da, eine Lücke. Aus dem Hintergrund müsste Lena schießen. Lena schießt. Tor! Tor! Tor! Tor!