Bochum. Keine Flanken, Zweikämpfe oder Sprints: „Walking Football“ ist wie Fußball, nur anders. Der Sport findet immer mehr Freunde, auch im Ruhrgebiet.
Die Flutlichter werfen einen grellen Schein, fieser Herbstregen prasselt auf den Kunstrasenplatz und auf Ulrich Stüwe. Die Brille des 61-Jährigen ist nass, er scrollt auf seinem Handy durch die Bildergalerie. Bei Fotos von seinen Enkeln wischt er weiter. Stüwe sucht ein bestimmtes Video. Es zeigt ihn im Trikot des VfL Bochum. Er läuft auf einen Fußballplatz, Dutzende Fans klatschen, blau-weiße Fahnen wehen, Herbert Grönemeyers Hymne mit dem Pulsschlag aus Stahl dröhnt aus den Boxen. Stüwe lächelt, während er sein Handy in die Tasche steckt, und sagt: „Das war ein Geschenk, ich hatte Gänsehaut am ganzen Körper.“
Walking Football kommt aus England
Stüwe, im Hauptberuf Beamter bei der Stadt Bochum, ist Trainer der Walking-Football-Mannschaft des VfL Bochum. Walking Football ist wie Fußball: Es geht darum, mehr Tore als der Gegner zu schießen. Aber es gelten andere Regeln. Rennen ist verboten, Zweikämpfe und hohe Pässe sind verboten. Der Sport richtet sich an Männer und Frauen ab 55 Jahren – und er boomt.
Erst vor zehn Jahren entstand Walking Football, wie könnte es anders sein, im Mutterland des Fußballs: England. Der Trendsport kam in andere Länder. Noch vor dem Beginn der Corona-Pandemie hatte der VfL Bochum für den „Kultklub“, so heißt die Abteilung für über 55-jährige Vereinsmitglieder, ein eigenes Team installiert. Ulrich Stüwe war von Beginn an dabei. Mit seinem Team, alle eingepackt in VfL-Klamotten, trainiert er an diesem Dienstagabend auf der Anlage der SpVgg Gerthe im Bochumer Norden. Zwei Mannschaften spielen auf dem abgesteckten Feld gegeneinander. Jubel nach Toren, ein Spruch nach vergebenen Großchancen. Der Flachs blüht, und das ist ein Grund für den Walking-Football-Boom. „Es ist irre, wie viele Freundschaften hier schon entstanden sind“, sagt Stüwe. Der Spaß, die Bewegung und das Bierchen nach dem Training haben das Team zusammengeschweißt. Bei Spielen gegen andere Teams wolle zwar jeder gewinnen, das ist klar. „Nur nicht mehr um jeden Preis“, fügt Stüwe an.
Dadurch, dass Rennen verboten ist, werden die Gelenke gleichermaßen geschont und gestärkt, weshalb der Sport ideal für eine ältere Zielgruppe ist. Das sei nicht der einzige Vorteil, sagt Uli Schleener. Der 61-Jährige muss es wissen, er besitzt eine Breitensport-Trainerlizenz und kümmert sich bei den Bochumern um das Warmmachen und die Athletik. Er selbst habe zwei kaputte Knie, wie er erzählt. „Aber laufen, das geht. Ich habe seit 30 Jahren kein Fußball mehr gespielt und jetzt wieder anfangen zu können, das ist schön.“
In Zweier-Gruppen üben die Spieler nun das Passen. Ein gutes, flaches Passspiel ist der Schlüssel zum Erfolg. Es ist schließlich verboten, Flanken zu schlagen, lange Bälle zu spielen oder überfallartige Konter zu fahren. Vier Hütchen liegen in gleichmäßigem Abstand vor den Zweier-Grüppchen, jedes Hütchen hat eine andere Farbe. Auf Kommando müssen die Spieler zum richtigen Hütchen dribbeln, es umkurven und den Ball zum Mitspieler zurückpassen. Gar nicht so einfach. „Wir trainieren viel im kognitiven Bereich“, erklärt Ulrich Stüwe. Er spricht aus, was wohl jeder auf dem Platz denkt: „Wir sind einfach unfassbar stolz, in unserem Alter unseren Verein vertreten zu können.“
Den VfL repräsentiert die Mannschaft zum Beispiel bei Turnieren. Da war der Wettbewerb in Velen, erinnert sich Stüwe. Wie echte Profis hatten sich er und seine Mitspieler dort gefühlt – in Velen entstand das Video, das er gezeigt hatte. Bei solchen Turnieren komme die ganze Community zusammen, zuletzt war das im Oktober in Resse der Fall.
Anruf bei Peter Colmsee, der besagtes Turnier in dem Gelsenkirchener Stadtteil mit organisiert hat. Der 66-Jährige spielt Walking Football bei Schalke 04 und Viktoria Resse. Ursprünglich war geplant, dass acht Teams antreten – am Ende waren es 18. Bayer Leverkusen und Eintracht Frankfurt nahmen teil, aber auch Twente Enschede oder Club Brügge. Europacup-Flair in Resse. Colmsee erzählt: „Wir haben das Turnier neun Monate im Voraus organisiert, 90 Personen haben geholfen. Der Aufwand war riesig.“
Reisen zu Turnieren im Ausland
Doch er hat sich gelohnt, die „neue“ Sportart spricht sich herum. Das sei wichtig, ist sich die Szene einig, nur so könne die Community wachsen. Immerhin schmiedet sie große Pläne. Alle Erst- und Zweitligavereine in Deutschland sollen in den kommenden Monaten eigene Walking-Football-Teams bilden, so laute eine Vision des Deutschen Fußballbundes (DFB).
Diese Profiklubs würden eine so genannte Leuchtturmfunktion einnehmen, was bedeutet: Sie werden kleinere Vereine in der Umgebung unterstützen und beim Aufbau von Strukturen helfen. Auf regionaler Ebene gibt es bald Ligen, zudem ist ein europäischer Wettbewerb geplant. „Walking Football könnte in den nächsten zwei, drei Jahren explodieren“, glaubt Peter Colmsee.
Zurück nach Bochum-Gerthe. Der Regen hat mittlerweile nachgelassen und Ulrich Stüwe nickt. Er stimmt Colmsees These zu: „Der Sport wird durch die Decke gehen, er wird sich auf jeden Fall durchsetzen.“ Und die Bochumer wollen ihren Beitrag dazu leisten. Sie planen ein eigenes Turnier und Reisen ins Ausland. Einmal als VfL-Spieler in den Niederlanden, in Schottland oder in England aufzulaufen, „das wäre ‘ne Bombe. Davon habe ich mein ganzes Leben geträumt“, sagt Stüwe und lacht - die nächste Gänsehaut, sie wäre programmiert.
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