Chemnitz. Erstmals seit Ruhr 2010 stellt Deutschland die Europäische Kulturhauptstadt. Chemnitz 2025 wirbt als bisher unsichtbare Größe: „C the unseen“.
In unseren Augen ist das nur eine abgetakelte Industriebrache, aber im Kultursprech ist es natürlich eine wunderbare „Interventionsfläche“: das frühere Busdepot von Chemnitz, 30.000 Quadratmeter groß, überwiegend ungenutzte Hallen, teilweise eingestürzt; nein, was man hier alles machen kann! „Bei den Tagen der Industriekultur wurde das angestrahlt“, erinnert sich die Projektmanagerin Tina Winkel: „Das schafft eine ganz besondere Atmosphäre.“ Ja, natürlich, wem sagen Sie das?
2025 soll das alte „Buseum“ als Kulturstandort vielfältig bespielt und dann als solcher erhalten werden. Ideen gibt es viele, konkret ist noch wenig, es ist aber auch noch Zeit. Chemnitz, vorübergehend Karl-Marx-Stadt, alte Arbeiterstadt in Westsachsen, wird im Jahr 2025 Europas Kulturhauptstadt sein neben Nova Gorica in Slowenien. Die erste aus Deutschland seit Essen und dem Ruhrgebiet 2010. Und ja, Industriekultur spielt auch wieder mit.
Stadt, Land, Bund, Europa investieren über 90 Millionen Euro
Chemnitz hat 2020 unter anderem Nürnberg, Hildesheim und vor allem den strahlenden Nachbarn Dresden hinter sich gelassen, durchaus zu größter eigener Überraschung. „Chemnitz ist nie von sich überzeugt, es braucht immer die Bestätigung von außen“, sagt Lucia Schaub: „Die Chemnitzer wissen jetzt, dass es die Kulturhauptstadt hier gibt, und sie stehen dem nur noch mittelskeptisch gegenüber.“
Lucia Schaub arbeitet bei der städtischen Wirtschaftsförderung, und das passt nun ganz gut. Denn Chemnitz hat begriffen, dass „Kulturhauptstadt“ vor allem ein Stadtentwicklungsprogramm ist: Die öffentliche Investitionssumme liegt über 90 Millionen Euro, davon kommen über 60 Millionen von außerhalb.
„Kulturangebote für viele Interessenten“
Und so zählt die Stadt im Internet vor allem erhoffte wirtschaftliche Erträge auf unter der Rubrik „Chancen, los!?“: Besucherzahlen, Arbeitsplätze, Umsätze, Zuzug; Kultur folgt im letzten Halbsatz: (“. . . wirtschaftliche Sicherheit, soziale Gerechtigkeit, Kulturangebote für viele Interessen“). Das ist schon mal sehr ehrlich.
Und doch, und doch: Schon die vorhandenen Anziehungspunkte sind sehr vielfältig, sie gehen nur in der allgemeinen Wahrnehmung neben Dresden und Leipzig komplett unter. Etwa der Kaßberg, ein riesiges Gründerzeit- und Jugendstilviertel, das jetzt wieder in einem guten Zustand ist; oder die Kunstsammlungen, die in diesen Monaten die Expressionisten der Malergruppen von „Brücke“ und „Blauem Reiter“ ausstellen.
Projekte wie „Nimm Platz“ oder der „Europäischen Parade der Apfelbäume“
Oder ein Diamant wie das Staatliche Archäologiemuseum Smac. Vergessen Sie alle Vorstellungen von ermüdenden Scherben in stumpf gewordenen Glasvitrinen. Smac ist von 2014 und damit noch so neu, dass die Führerin nicht etwa sagt: „Wenn wir morgens öffnen . . .“. Nein, sie sagt vielmehr: „Wenn wir das Museum morgens hochfahren . . .“ Top-Technik hier. Auch wenn der Satz so weitergeht: „. . , streikt immer irgendwas.“
„C the unseen“ wird das Motto der Kulturhauptstadt sein, „Sieh das Unbekannte“, und es meint drei Aspekte: das weitestgehend unbekannte Chemnitz, sein unbekanntes Kulturangebot und die bürgerliche und demokratische Mitte der Bevölkerung, die in den letzten Jahren immer mal wieder von Nazi-Geschrei übertönt wurde.
Diese Mitte zu aktivieren und sichtbar zu machen, ist das ausgewiesene Ziel; Projekte wie „Nimm Platz“ oder die „Europäische Parade der Apfelbäume“ sind dazu erfunden. Das eine soll aus ungenutzten Flächen Treffpunkte machen, das andere Region, Menschen und Kultur verbinden. Denn ähnlich wie 2010 tritt auch Chemnitz mit der Region an, ist Zschopau mit dabei oder die Industriestadt Zwickau, wo Audi entstand und der Trabi montiert wurde.
Im Sommer 2023 soll ein erstes Programm stehen
Es sind 72 Ideen, mit denen Chemnitz und das Umland sich in der Bewerbung durchgesetzt haben. Daraus werden nun Projekte, weitere Ideen sind noch willkommen, und im Sommer 2023 soll das Programm stehen. Eingebunden sind unter anderem ein verlassenes Gelände der Abfallwirtschaft, eine frühere, gigantische Lokomotivenfabrik und weitere Brach . . . weitere Interventionsflächen.
Das Busdepot steht unter ihnen als größtes Beispiel für das Vorhaben „3000 Garagen“: Einheimische sollen ihre Garagen öffnen und mit Besuchern irgendwas machen. Tina Winkel sagt: „Eine Frau aus der Nachbarschaft war schon da und hat gesagt: Ich habe eine Garage, könnt ihr damit was anfangen?“ Die war nicht mehr mittelskeptisch, sondern zumindest vierteleuphorisiert.