Lüdenscheid. Medizin-Labore bearbeiten teilweise sogar nachts Corona-Verdachtsfälle - und klagen über Materialnotstand. Eine Reportage aus Lüdenscheid.
Dr. Hans Günther Wahl ist ein Mann mit einer sanften Stimme. Vielleicht macht das seine Botschaft noch etwas dringlicher. „Wir sehen, dass es immer mehr wird“, sagt der 64-Jährige. „Es ist heftig und wir befinden uns definitiv im Ausnahmezustand.“ Wahl ist Leiter eines der medizinischen Labore, die derzeit im Akkord Corona-Verdachtsfälle bearbeiten. Die Labore, wo die Nachrichten entstehen, denen man derzeit nicht entkommt: neue Fälle hier, neue Fälle dort. 300 Tests sind‘s hier in Lüdenscheid am Tag. Bald sollen es 1000 sein. Wenn die Probleme nicht wären.
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Das Labor befindet sich im Untergeschoss der Märkischen Kliniken in Lüdenscheid. Blassbeige ist der Linoleumboden, gelb sind die Wände in dem langen, schmalen, fensterlosen Flur. Rechts mit etwas Abstand zueinander zwei weitere Gänge. In einem stehen Kühlschränke an der Wand, in dem anderen hängen dutzende weiße Kittel. Die Gänge führen in ein Groß-Labor mit riesigen Analysegeräten, die einen Lärm machen wie mehrere Waschmaschinen im Schleudergang. Mitarbeiter stehen an Computern, manche tragen Mundschutz. Eine Warnlampe in der Mitte des Raums zeigt Orange. Oder herrscht schon Alarmstufe Rot?
Corona: Charité in Berlin mit Menge der Verdachtsfälle schnell überfordert
„Am Anfang sind die Proben aus Deutschland ausschließlich nach Berlin in die Charité gebracht worden. Aber mit den Mengen waren sie dort schnell überfordert“, sagt Wahl. Seitdem es Corona-Tests auf dem Markt gibt, werden sie auch in den anderen Laboren durchgeführt. Am 4. März gab es die ersten vier Tests bei Wahl.
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Eine von vielen geschlossenen Türen auf dem langen Gang ist Zimmer 217. Eigentlich unscheinbar, wenn da das Schild nicht wäre. „Nicht stören“. Das ist keine Bitte. Hinter dieser Tür ist das Virus.
Eine Frau sitzt in einer medizinischen Sicherheitsbank, eine Glasscheibe trennt ihr Gesicht von dem Ort, an dem die Hände arbeiten. Ein Abzug saugt die Luft ab. Sie trägt Mundschutz, Handschuhe, Einmalkittel. „In dem Moment, in dem man den Abstrich aufmacht, wird es gefährlich“, sagt Wahl. Eine unbedachter Moment – und das Coronavirus verteilt sich. Dort beginnt der komplizierte Vorgang des Nachweises.
Erster Todesfall im Märkischen Kreis
Die Rachenabstriche werden in Kartuschen pipettiert, die einer Maschine übergeben werden. Mithilfe magnetischer Kügelchen wird das Erbgut des Virus freigelegt. Dieses wird dann einer chemischen Reaktion – mithilfe sogenannter Reagenzien - ausgesetzt und in einer weiteren Maschine vervielfältigt.
Nach einer Stunde entstehen auf einem Monitor Kurven und Kästchen in Rot und Grün. Jedes rote Kästchen ist ein positiver Fall. Es sind viele rote Kästchen zuletzt gewesen. 14 Prozent betrage die Positiv-Quote, sagt Hans Günther Wahl, während er an dem Monitor sitzt. Ein erster Todesfall wird in diesen Minuten im Märkischen Kreis gemeldet.
Corona: Die wichtigsten Fragen und Antworten
„Seit zwei Wochen dreht sich fast alles nur noch um Corona. Wir haben eine Extraschicht eingerichtet“, sagt Wahl. Sein Labor hat 100 Mitarbeiter, nur drei sind es aber in dem Bereich, der jetzt so stark gefordert ist. Ein spezieller Bereich, in den andere Mitarbeiter nicht einfach wechseln können, ohne geschult zu werden. Die Dienstzeit beginnt nun eine Stunde früher – um 7 Uhr – und endet erst um 22 Uhr. Alle Proben, die an diesem Tag angeliefert wurden, sollen noch am gleichen Tag bearbeitet und zwischen drei und 24 Stunden später wieder ausgeliefert werden. „Denn: Man weiß ja nicht, wie viele Proben am nächsten Morgen wieder da liegen“, sagt Wahl. Gestern sei am Abend ein ganzer Schwung neuer Proben eingegangen. Die Mitarbeiterin blieb freiwillig bis zum Morgengrauen.
Proben aus Lüdenscheid, Hagen, Plettenberg, Hamm, Siegen, Warstein und Kassel
Das Labor im Haus der Märkischen Kliniken ist eines von weniger als 1000 in Deutschland. Es arbeitet viel mit Kliniken zusammen. Proben kommen von Krankenhäusern in Lüdenscheid, Hagen, Plettenberg, Siegen, Warstein, Hamm und sogar Kassel. Zurzeit schafft es das Labor noch, alle Tests schnell durchzuführen. Aber wie lange noch?
Corona: Das allgemeine Newsblog
„Ich bin manchmal schon dem Nervenzusammenbruch nahe, wenn ich weiß: Ich habe nur noch Corona-Tests für die nächsten drei Tage. Es ist alles aufgebraucht – und das geht allen Labors so“, sagt Hans Günther Wahl. Die Kartuschen, mit denen das Erbgut extrahiert werden kann, sind rar. „Eine Firma, die die herstellt, sitzt in den USA. Man ahnt, warum sie nicht mehr liefern können“, sagt Wahl. „Aber auch die PCR-Reagenzien bekommen wir nicht, wie gewünscht. Da ist nicht dranzukommen. Wenn wir 10.000 bestellen, bekommen wir ein Fünftel oder ein bisschen mehr.“ Der Markt spiele gerade verrückt. „Labore würden derzeit fast alles zahlen, um an Tests zu kommen. Absurde Szenen spielen sich ab, wenn es sogar zu Tauschhandeln kommt.“
Neues Analyse-Gerät für 100.000 Euro
Die Tür zum Labor öffnet sich. Zwei Männer schieben einen Rollwagen herein. Darauf befindet sich ein großer weißer Kasten, der in einen kleinen Raum geschoben wird. Das neue Analysegerät wird gerade angeliefert. 100.000 Euro hat es gekostet und soll sich langfristig rechnen. Es kann gleichzeitig 96 statt wie bisher nur 16 Proben vom Erbgut befreien. Damit kann das Labor in Lüdenscheid das tun, was von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn gefordert wird: noch mehr testen, noch früher erkennen. „Wenn wir alle Materialien hätten, könnten wir mit der neuen Maschine 1000 Tests am Tag machen“, sagt Hans Günther Wahl. „Wenn.“