Mülheim.. Adrenalin und übersäuernde Muskeln: In Mülheim können Kletterer hoch hinaus und sich fallen lassen. Im besten Fall erleben sie den „Flow“.


Meine rechte Hand packt den blauen Griff, die linke greift nach einem roten. Danach stoßen sich die Beine ab und finden neuen Halt an zwei anderen, kleinen Kunststoff-Vorsprüngen, die etwas höher an die Holzwand geschraubt sind. Ich blicke nach unten. Zwölf Meter unter mir ruft Guido irgendetwas. Seine Worte sind Motivation, auch wenn sie kaum zu mir durchdringen. Mein Körper ist arg beschäftigt in diesem Moment. Adrenalin schießt hindurch, ein Glücksgefühl legt sich sanft über Zweifel, Ängste und Sorgen. Zwei Meter noch, dann einer. Oben.

„Totale Aufmerksamkeitszentrierung“, sagt Guido Krautkrämer, als wir nach meiner Klettertour am Tisch sitzen. Ich versuche, die beiden Wörter aufzuschreiben, doch meine Finger zittern nach der ungewohnten Anstrengung. Das Gekritzel auf dem Block ist kaum zu entziffern, aber ich weiß genau, was der Trainer meint. Nur der nächste Griff ist wichtig, alle anderen Gedanken verflüchtigen sich. Dem Flow, dem mentalen Zustand völliger Vertiefung, bin ich selten so nahe gekommen wie an diesem Morgen in der Kletterhalle in Mülheim.

Auf den Spurender Huberbuam

Guido Krautkrämer nickt lächelnd. Der Geschäftsführer der Kletterzentren Neoliet ist es gewohnt, Menschen für einige Momente ziemlich glücklich zu machen. Ich fühlte mich auf der vergleichsweise leichten Einsteiger-Route bereits ein wenig wie die Huberbuam – jenes bayerische, bärtige Brüderpaar von Extremkletterern, das einem größeren Publikum vor allem durch die Milch-Schnitte-Werbung bekannt ist. Guido stand bei meinem Höhenrausch derweil mit beiden Beinen auf dem Boden und hatte mein Leben in der Hand. Das Seil, das uns verband, war mit einer Sicherung in seinem Karabinerhaken befestigt.

Guido Krautkrämer ist es gewohnt, Menschen für einige Momente ziemlich glücklich zu machen.
Guido Krautkrämer ist es gewohnt, Menschen für einige Momente ziemlich glücklich zu machen. © Lars Heidrich | Unbekannt






„Das Vertrauen in den Partner und das Seil muss man beim Klettern lernen“, sagt der 43-Jährige. Wenn der Sichernde keinen Blackout hat, ist der Kletterer nicht in Gefahr. Kleine Karten überall in der Halle – eine der größten in Deutschland – erinnern daran, dass der Check von Sicherung und Knoten vor jedem Kletterversuch „kein Vertrauensbruch, sondern ein Liebesbeweis“ ist.

Dank des Partners kann sich der Kletterer buchstäblich fallen lassen, ohne abzustürzen. Das stramme Seil hält. Diese Erfahrung mache ich dreimal, als wir eine andere, etwas schwierigere Route ausprobieren. Die ersten Meter bereiten keine Probleme, doch dann hänge ich in der Wand fest.

Die Muskeln übersäuern schnell bei Untrainierten

Der nächste Griff scheint unerreichbar, obwohl er nur wenige Zentimeter entfernt aus der Holzwand ragt. Ich kralle mich an den Kunststoff-Steinen fest, die Muskeln in meinen zu wenig trainierten Unterarmen übersäuern, jegliche Kraft entschwindet. Loslassen. Die Wand hat mich bezwungen.

Für das krampfhafte Festhalten macht Guido Krautkrämer die Ur-Instinkte verantwortlich: „Die Angst vor der Höhe ist richtig und gut. Damit spielen wir in der Kletterhalle ein wenig.“ Mit jedem weiteren Versuch lasse die Angst nach, sagt er. Aber die Furcht vor dem Absturz sei typisch für Einsteiger.

Dabei bin ich gar kein absolut blutiger Kletteranfänger. Vor rund 15 Jahren hangelte ich mich das erste und bis dahin letzte Mal in meinem Leben angeseilt eine Kletterwand hoch. Ich erinnere mich dunkel, dass ich damals mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Neid meinen Mitschülern zusah, die gen Hallendecke kletterten. Während ich meine Versuche auf Türrahmenhöhe abbrach.

Faszination auf dem zweiten Blick

Die neuen Erfahrungen verändern meine Einstellung zum Klettern. Faszination auf den zweiten Blick. Und das hat viel mit Guido Krautkrämer zu tun. Als Jugendlicher verletzte er sich beim wilden Klettern in einem Steinbruch in Hattingen, ließ sich dann zum Kletterlehrer ausbilden, erfüllte sich den Traum von einer Halle in Bochum, wohnte mit seiner Familie dreieinhalb Jahren darin und ist heute Geschäftsführer von drei Kletterzentren und einer Boulderbar im Ruhrgebiet.

Wenn Krautkrämer übers Klettern spricht, dann begleitet Begeisterung jeden seiner Sätze. „Dieses Erlebnis lässt sich durch nichts ersetzen“, sagt er. „Das Klettern an Felsen ist eine freie Welt, in der man Wagnisse eingehen und Abenteuer erleben kann. Und wir schaffen die Möglichkeiten, das auch im Ruhrgebiet zu spüren.“