An Rhein und Ruhr.. Rund 300 Familien werden von der Tafel in Wesel mit Lebensmitteln versorgt. Ein Besuch zeigt: Gute Organisation hilft, Probleme zu vermeiden.


Es ist 14 Uhr. Rosa Fundowaia, die manche der Bedürftigen Oma oder Mama nennen, sitzt wie an jedem Nachmittag um diese Zeit auf ihrem Stuhl am Eingang des Aufenthaltsraums und achtet darauf, dass jeder seine Nummer bekommt und Ordnung herrscht. 30 Menschen sind heute in den unscheinbaren Klinkerbau am Mühlenweg in Wesel gekommen. Frau Fundowaia, kräftig, graue Haare, braune Steppweste, ist die gute Seele hier, sie begrüßt die Menschen freundlich. Sie kennt sie alle, die meisten kommen schon seit längerer Zeit zur Tafel, um sich hier mit Lebensmitteln einzudecken.

Einige Stunden vorher. Um kurz vor acht starten Wilfried Kowalzcik und Kevin Paul ihre Tour. Lebensmittel abholen, acht Stationen stehen auf dem Plan. 70 Kiliometer werden am Ende auf dem Tacho stehen. Kowalzcik, 68, ist Rentner, früher war er Fernfahrer. „Ich habe ein paar Mal meinen Keller umgeräumt. Dann habe ich gedacht, du musst was tun.“ Er bewarb sich bei der Tafel, seit Januar fährt er ehrenamtlich. Außerdem ist er Vorsitzender in einem Angelverein, natürlich auch ehrenamtlich.

„Besser als zu Hause sitzen und nix tun“

Paul, 31, ist Zwei-Euro-Jobber. Er hat mal als Lagerist gearbeitet und als Zweirad-Mechaniker, das war aber alles nichts. Genauso wie die Theater-AG, in die ihn das Arbeitsamt gesteckt hat. „Da sitzt du mit acht Mann im Kreis und guckst dich an. Wir sollten ein Stück über Obdachlose aufführen. Nee.“ Jetzt ist Kevin Paul seit zwei Monaten bei der Tafel und fühlt sich wohl. „Ich verdien‘ was dazu, und es ist besser als zu Hause sitzen und nix tun.“

Die Lebensmittel stammen aus Supermärkten in der Umgebung.
Die Lebensmittel stammen aus Supermärkten in der Umgebung. © Unbekannt | Unbekannt

Die Weseler Tafel ist eine von mehr als 930 in Deutschland. Die Idee dahinter: Supermärkte spenden Lebensmittel, die kurz vor Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums stehen, die Tafeln verteilen sie an bedürftige Menschen. Seit bekannt wurde, dass die Tafel in Essen nur noch deutsche Neukunden aufnimmt, wird über die Einrichtungen diskutiert, warum sie überhaupt nötig sind und ob am unteren Rand der Gesellschaft Verdrängungsprozesse stattfinden, in denen sich ausländische Bedürftige gegen einheimische durchsetzen. Mit denjenigen, die sich dort engagieren oder die dorthin gehen, wird seltener gesprochen.



Die Essener begründeten ihre Notbremse damit, dass sich junge männliche Flüchtlinge nicht benehmen konnten und ältere deutsche Frauen deswegen der Tafel fernblieben. Nur ein Viertel der Kundschaft habe noch einen deutschen Pass, dieses Missverhältnis wolle man durch die Maßnahme ausgleichen. In Wesel sind 80 Prozent der Kunden Ausländer. „Wir haben keine Probleme“, sagt Kevin Paul, „die Leute sind nett und bedanken sich meistens sogar. Ist doch ganz einfach. Wer sich nicht benimmt, fliegt raus.“ Einen Aufnahmestopp haben sie in Wesel auch, der gilt aber für alle Neukunden. Die Ehrenamtlichen sind an ihre Kapazitätsgrenzen gelangt.

Wir fahren Supermärkte und eine Bäckerei in Hamminkeln und Flüren ab, nach einer Kaffeepause geht es weiter nach Büderich. Überall stehen die Kisten mit den Lebensmitteln schon bereit, mal prall, mal bescheiden gefüllt. Auch die Qualität schwankt, manche Äpfel schimmeln, mancher Salat ist welk, manche Packung aufgerissen. „Ab und an sind wir Entsorger, die Frauen sortieren das nachher aus“, sagt Kowalzcik. Die meiste Ware ist aber frisch, top in Ordnung. Heute ist nicht wirklich viel los, das ist immer mittwochs so, aber an manchen Tagen kommen die Männer ziemlich ans Ächzen. Alle Ehrenamtlichen bei der Tafel sind im Rentenalter. Der größte Kunde, wie sie sagen, das Frischelager von Rewe, wird Ende nächsten Jahres schließen. Das wird ein Problem.

Die große Politik interessiert die Männer nicht

300 Familien werden versorgt.
300 Familien werden versorgt. © Unbekannt | Unbekannt

Die große Politik interessiert die beiden Männer nicht sonderlich, sie sind Anpacker. Kowalzcik redet lieber über die Zeit, als er tagelang durch Europa gefahren ist, er schwärmt von Italien und Schweden und von der Kameradschaft auf der Straße. Die Kanzlerin mag er nicht, „mit den Flüchtlingen, das war schon ein bisschen viel“. Sein Ehrenamt gefällt ihm, weil er etwas zu tun hat, weil das Team toll ist. Mit Sozialromantik hat er nichts am Kopf. Kevin Paul ist sauer über die Fälle sexueller Belästigung durch Flüchtlinge, von denen er gehört hat. „Ich verabrede mich doch nicht mit meinen Freunden, um eine Frau zu vergewaltigen. Warum machen die das?“



Gegen Mittag haben Kowalzcik und Paul ihre Tour beendet. Kowalzcik fährt nach Hause, Paul macht ein Nickerchen. Die Frauen haben schon die Lebensmittelausgabe vorbereitet. Einige von ihnen sind hier, weil ihnen nach dem Tod der Ehemänner die Decke auf den Kopf fiel, andere engagieren sich sowieso schon in der Kirchengemeinde. Von den Problemen in Essen haben sie natürlich auch gehört und darüber diskutiert. „Aber bei uns ist das anders. Wir sind ja auch auf dem Land, und wir organisieren das auch anders“, sagt Gudrun Koppers, die seit fünf Wochen dabei ist. Vor allem aber haben sie Rosa Fundowaia, die hier vor fast zwei Jahrzehnten angefangen hat, die jeden Tag unter der Woche kommt und nur eine Woche im Jahr Urlaub macht, und die, wie sie sagen, eine tolle Art hat, mit Menschen umzugehen.

„Ich kenne die Leute“, sagt Frau Fundowaia, „ich weiß, wer ein gutes Leben und wer ein schlechtes Leben hat.“ Sie kann hart sein, wenn ihr jemand krumm kommt, aber sie unterscheidet nicht nach Nationalitäten. „Sind ja alles Menschen.“

Die Tafel-Mitarbeiter Kevin Paul und Elke Woemer und NRZ-Reporter Jan Jessen (Mitte)
Die Tafel-Mitarbeiter Kevin Paul und Elke Woemer und NRZ-Reporter Jan Jessen (Mitte) © Unbekannt | Unbekannt

Sie haben es in Wesel sehr straff durchorganisiert. Fünf Tage die Woche ist Ausgabe, jeden Tag andere Anfangsbuchstaben. Heute sind die Buchstaben K, L und M dran. Das heißt, wenig Leute aus dem arabischen Raum, weil deren Namen ja oft mit A anfangen. Stattdessen gibt Frau Fundowaja Nummern an Menschen aus Deutschland, Russland, Usbekistan, Kasachstan und aus der Türkei aus, nachdem sie die zwei Euro kassiert hat, die jeder zahlen muss. Insgesamt versorgt die Tafel in Wesel etwa 300 Familien.



Der Aufenthaltsraum ist fensterlos, an den Wänden hängen Tierposter, in Regalen ist Kleidung gestapelt, die für wenig Geld gekauft werden kann. Die Leute warten hier geduldig, manche haben den Kopf in die Hände gestützt, eine Gruppe schaut sich Videos auf dem Smartphone an, russische Musik, ab und an lachen sie. Eine Frau erzählt in die Runde hinein über ihren Hasen, für den sie Leckerchen gekauft hat, es entbrennt eine Diskussion darüber, wie man Hasen stubenrein bekommt.

Hier sitzen auch Peter und seine Frau Claudia, das Leben hat ihre Gesichter gezeichnet. Es sind nicht ihre richtigen Namen, fast keiner hier will sich in der Zeitung wiederfinden. Die beiden kommen seit sieben Jahren hierher. Vorher hat Peter zwanzig Jahre in einer Schleiferei gearbeitet, 1250 Euro im Monat, dann haben sie ihn kaputtgeschrieben. Jetzt leben sie von seiner Rente, 800 Euro monatlich.

Der 58-Jährige regt sich über Politiker wie den künftigen Gesundheitsminister Spahn auf und über FDP-Chef Lindner, die behaupten, dass man von Hartz IV gut leben könne. „Da geh‘ ich hoch wie ein HB-Männchen“, schimpft Peter. Claudia hat ein weißes Hemdchen entdeckt. „Guck‘ mal“, sagt sie und hebt sie es hoch, „das sieht doch gut aus.“ Aus der Runde kommt Zustimmung, Peter brummt. „ja nimmet doch“, 50 Cent.

Bei der Tiertafel geht es rauer zu

Peter erzählt, dass er und Claudia jede Woche hierher kommen. „Das Gemüse schneiden wir klein und frieren es ein, dann haben wir die ganze Woche was davon.“ Sie nähmen aber immer nur so viel mit, wie sie selbst brauchten. „Da kommen ja auch Familien mit vielen Kindern.“ Und die Ausländer? Peter zuckt mit den Schultern. „Da haben wir hier keine Probleme mit.“

Die Bedürftigen können tütenweise Lebensmittel mitnehmen.
Die Bedürftigen können tütenweise Lebensmittel mitnehmen. © Unbekannt | Unbekannt

Das sieht auch Frank so, er ist 64, war früher Unternehmer. Auch er heißt in Wirklichkeit anders. Von seinen Bekannten soll niemand wissen, dass er zur Tafel geht, „man muss sich überwinden, hierhin zu kommen, das ist ja noch immer ein Tabuthema“. Die Tafel „hat das hier sehr gut organisiert, hier gibt es kein Gedränge“. Bei einer Tiertafel, zu der er auch geht, sei das ganz anders, da würden die Waren einfach so verteilt, und manchmal gebe es Prügeleien. „Da sind aber nur Deutsche.“



Im Ausgaberaum läuft derweil die Verteilung. Immer zwei Kunden dürfen an die große Theke kommen und ihre Taschen vollpacken. Danach füllen die Frauen und Kevin die Theke wieder auf. Brot, Käse, Wurst, Joghurt, Obst, Gemüse, auf einer Seite Waren mit Schweinefleisch, auf der anderen ohne. Es geht alles schnell, routiniert. Als eine der letzten sind Rami, 12, und Javid, 10, dran. Die beiden kommen aus Afghanistan und sind seit sieben Monaten in Deutschland. „Wir kommen aus Kundus, da ist Krieg“, sagt Javid schüchtern. Der Vater kann heute nicht kommen, er besucht einen Deutschkurs. Die beiden lächeln beim Herausgehen. „Dankeschön“, murmelt Rami.

Um 16.30 Uhr endet die Lebensmittelausgabe. Morgen sind die Buchstaben N, O, P, Q, R und S an der Reihe.