Mönchengladbach. Getötete Kinder, der Fall Marvin, eine Frau, die vor den Zug gestoßen worden ist – Marie Lingnau verhandelt besonders schockierende Fälle.
Ein psychisch kranker Mann stößt in Voerde eine Frau vor den Zug, ein Stiefvater erwürgt und misshandelt den fünfjährigen Luca, der fünfjährige Fabio wird totgeprügelt, der fast dreijährigen Greta drückt eine Erzieherin in der Kita die Luft ab, so dass sie Tage später stirbt. Fälle, die uns fassungslos zurücklassen. Gräueltaten, die bei Marie Lingnau Tag für Tag auf dem Tisch liegen. Die Anwältin aus Mönchengladbach hat in den zurückliegenden Monaten die besonders schockierenden Straftaten im Gericht verhandelt.
Mit festen und flotten Schritten betritt Marie Lingnau den Gerichtssaal. Sie hat im wahrsten Sinn ein sicheres Auftreten. Hier kommt eine Frau, die weiß, was sie will. Für manchen Richter ist das womöglich zu viel Wille. Doch mit Eitelkeiten hält sich die 40-Jährige nicht auf.
Um zu verstehen, müssen wir zum Landgericht Bochum blicken. Dort wird der „Fall Marvin“ verhandelt, Ende Mai soll es weitergehen. Auch eine dieser unfassbaren Geschichten.
Der damals 15-jährige Junge aus Duisburg ist Ende 2019 bei einer Hausdurchsuchung zufällig durch die Polizei in einer Wohnung in Recklinghausen gefunden worden. Er hatte sich in einem Schrank versteckt. Der Junge lebte zweieinhalb Jahren in der Wohnung des wegen Kinderporno-Besitzes vorbestraften Mannes, der sein Opfer regelmäßig sexuell missbraucht haben soll.
Kinderpornografische Bilder im Gefängnis
Lingnau vertritt Marvin in der Nebenklage. Marvin selbst ist nicht anwesend. Denn er kann seinem mutmaßlichen Peiniger nicht gegenübertreten. Dafür, dass er dies auch nicht während seiner Zeugenaussage tun muss, hatte seine Anwältin hart gekämpft. Erst nachdem eine Gerichtsgutachterin sagte, dass eine Konfrontation im Gerichtssaal eine „wissentliche Gefährdung des Kindeswohls“ sei, durfte er seine Zeugenaussage aus einem separaten Raum im Gericht machen. Dieser Kampf war in diesem Verfahren nicht der einzige.
Im Sommer ist das Selbstleseverfahren angeordnet worden, ein durchaus übliches Verfahren. Doch zu der Lektüre gehörten auch kleine Fotos, die laut Marie Lingnau Kinder bei pornografischen Handlungen oder in sexuell aufreizenden Posen zeigten. Auch wenn einzelne Körperteile geschwärzt worden seien, sei das „mehr als grenzwertig“. „Ich bin im Dreieck gesprungen“, sagt sie im Gespräch mit der NRZ. Denn: Diese Dateien hat auch der Angeklagte in der Justizvollzugsanstalt erhalten, der Mann, bei dem diese Bilder beschlagnahmt wurden und der bereits wegen Kinderpornografie-Besitzes vorbestraft ist. Nachdem lange über die rechtliche Bewertung gestritten wurde, wandte sich die Anwältin an die Opferschutzbeauftragte des Landes, die ihr - Lingnaus Auskunft nach - Recht gab. An dem Ablauf des Verfahrens habe es zwar nichts mehr geändert, aber Lingnau tue es gut, eine Bestätigung für ihre Einschätzung zu bekommen, sagt sie. Und möglicherweise helfe das in anderen Prozessen.
Jackson B. stieß in Voerde eine Frau vor den Zug
Es ist deutlich zu spüren, dass der Prozess im Fall Marvin sehr an den Nerven der Anwältin zerrt, weil aus ihrer Sicht so wenig Rücksicht auf das Opfer genommen werde.
Auch im Prozess gegen Sandra M., die das Landgericht Mönchengladbach wegen Mordes an der kleinen Greta in Viersen und der Misshandlung weiterer Kinder lebenslänglich verurteilte, stellte sie einen Antrag. Sie fand es befremdlich, dass die Seelsorgerin direkt neben der Angeklagten Platz nehmen durfte. Es sei ein Ausdruck von mangelnden Respekts der Mutter des verstorbenen Mädchens gegenüber. In dem Fall wurde ihr Antrag von dem Vorsitzenden Richter allerdings abgelehnt. Mehr war nicht zu machen für Marie Lingnau. „Manchmal reicht es auch, die Dinge laut anzusprechen und wach zu machen.“
Doch Lingnau ist nicht nur auf der Seite der Opfer, sie übernimmt auch Verteidigungen. Wie bei Jackson B., der im Sommer 2019 am Bahnhof Voerde unvermittelt eine junge Frau vor einen einfahrenden Zug stieß. Die Frau starb. Jackson B. kam dauerhaft in die Psychiatrie. Der Fall sorgte damals bundesweit für Aufsehen.
Die andere Perspektive auf der Seite der Verteidigung
Nach diesem Fall musste sich Anwältin Marie Lingnau vor allem in den Internet-Kommentaren einiges gefallen lassen. Man solle sie selbst vor einen Zug stoßen, las sie da. Das habe sie schon heftig gefunden. „Wenn ich jemanden verteidige, heißt das nicht, dass ich die Tat desjenigen gutheiße, aber ich verteidige immer einen Menschen und nicht nur einen Täter“, stellt sie klar. „In unserem Rechtsstaat hat jeder Mensch das Recht auf eine faire Verteidigung. Und das ist gut so.“ Oft sind Täter an 364 Tagen im Jahr „ganz normale Menschen“. „Und dann geht es um diesen einen Tag, der das Leben so verändert.“
Trotzdem: Luca, Fabio, Greta – all diese Fälle „lassen mich nicht kalt“, sagt sie. Vor allem, wenn die Tränen in den Prozessen fließen. Marie Lingnau gilt als eine Anwältin mit Herz. Und als Kämpferin. Das bescheinigen ihr auch Mandaten.
Doch trotz aller Empathie für die Opfer und ihre Angehörigen ist für sie klar, dass sie eine professionelle Distanz wahren muss. Sie versucht, ihre Mandanten auf die Prozesse vorzubereiten und aufzuzeigen, dass es auch in den Gerichtsverhandlungen nicht immer das gibt, was sie sich erhoffen: Antworten auf die Frage „warum?“.
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