Bochum. Ein Jahr nach Prozessbeginn sagt der Mann aus, der Marvin aus Duisburg missbraucht und versteckt haben soll. Er sagt: Es war alles Marvins Idee.
Fast 1000 Tage soll der Mann den Jungen Marvin aus Duisburg in seiner Wohnung in Recklinghausen versteckt, ihn an die 500-mal missbraucht haben. Am Montag, mehr als ein Jahr nach dem Beginn seines Prozesses am Landgericht Bochum, schildert der Angeklagte erstmals seine Sicht der Dinge: Danach war „alles die Idee von Marvin, nicht meine“.
41 Verhandlungstage hat der 46-Jährige meist geschwiegen, er spricht auch an diesem Tag nicht selbst. Sein Anwalt liest seine Einlassung vor, die erste Reaktion auf die schweren Vorwürfe: Missbrauch eines anfangs 13-Jährigen „gegen Entgelt oder unter Ausnutzung einer Zwangslage“ in mindestens 475 Fällen, Besitz und Verbreitung kinder- und jugendpornografischen Materials sind angeklagt, auch Bilder von Marvin, nackt und bei sexuellen Handlungen fotografiert, soll der Mann verschickt haben. Der liest mit, eine Brille auf der Nase, seine Hand knetet die Maske darunter.
Angeklagter: Marvin trieb mich in den Alkohol
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An den bekannten Fakten kann er mit seiner Aussage nicht rütteln: Die Polizei suchte im Dezember 2019 kinderpornografische Bilder bei dem einschlägig vorbestraften Recklinghäuser und fand den lange vermissten Jungen zufällig im Schrank. Aber die Täter-Opfer-Perspektive dreht der 46-Jährige kurzerhand um. Marvin habe ihn kontrolliert, manipuliert, zur Verzweiflung und schließlich in den Alkohol getrieben. „Ich konnte mich nicht durchsetzen.“
Es war demnach Marvin, der in einer Whatsapp-Gruppe für an Jungen interessierte Männer zuerst ein Treffen vorschlug („von Sex war nie die Rede“). Geld und Zigaretten, laut Staatsanwaltschaft das Zahlungsmittel dafür, habe er ihm nur gegeben, weil er „wenig Geld zur Verfügung“ hatte. Es war Marvin, der ihn zu sexuellen Handlungen „aufforderte“, Marvin, der plötzlich ohne Hose in seiner Wohnung stand, Marvin, der bleiben wollte. „Er wollte das alles selber.“
Alles Marvins Idee: Mutmaßlicher Täter dreht den Spieß um
In Jogginghose, Kapuzenpulli und Schuhen, aber ohne Unterwäsche sei der Junge 2017 bei ihm eingezogen – derselben Kleidung, die er auch noch trug, als eine Polizistin ihn zweieinhalb Jahre später entdeckte, „verwahrlost“, wie sie im Prozess aussagte. Am Anfang sei es um ein Wochenende gegangen, dann um zwei Wochen, später wollte der Jugendliche gleich fünf Jahre bleiben, „bis er 18 ist, das hat mich auch überrascht“. Die sexuellen Handlungen seien allesamt von Marvin ausgegangen, er selbst habe nichts gemacht, „nicht ein einziges Mal“, immer wieder kommt diese Formulierung: „Er hat mich dazu aufgefordert.“
Und der Mann, dessen Vater noch mit in der Wohnung lebte, will sich gefügt haben: „Er hatte immer mehr das Sagen. Ich habe nur noch gemacht, was Marvin wollte. Ich konnte mich nicht mehr durchsetzen“, auch dieser Satz wiederholt sich. Der Junge, 13 Jahre alt, später 14, 15, habe sein Handy kontrolliert, ihn nächtelang wachgehalten, ihm „verboten“, jemandem von seiner Existenz zu erzählen. Der Angeklagte selbst habe ihm anfangs noch hinterhergeräumt, ihm „alle Wünsche erfüllt“ – doch der Junge habe ihn „angegriffen wie beim Wrestling“. Die dokumentierten Schläge, Drohungen, ein Angriff mit der heißen Kaffeekanne? Nur Notwehr. „Ich habe mich aufgegeben.“
„Er sagte, er sei heiß auf mich. Ich habe das geglaubt“
Dabei habe Marvin es gut gehabt, versucht Anwalt Markus Kluck zu vermitteln. „Ich hatte das Gefühl, dass er bei mir aufgeblüht ist.“ – „Am Anfang hat er mich sogar Papa genannt.“ – Die Tür sei nie abgeschlossen gewesen, der Junge eigentlich frei. Der habe aber nicht zurückgewollt in die Jugendeinrichtung, wo er zuletzt lebte. „Er sagte, er sei heiß auf mich. Ich habe das geglaubt, aber vielleicht wollte ich das auch nur glauben.“ Von Tränen der Verzweiflung lässt der Mann berichten, der seit Beginn der Verhandlung in der immer gleichen ausgebeulten Jeans nebst schlabbrigen T-Shirt dasitzt, er habe keinen Ausweg gefunden, nicht gewusst, wie er der Situation entkommen solle und jede Nacht eine Flasche Weinbrand getrunken – ohne habe er nicht mehr einschlafen können. „Auch heute weine ich noch viel.“
Nebenklage-Anwältin spricht von „Selbstmitleid“
Von „Selbstmitleid“ spricht Marie Lingnau später, die das Opfer als Nebenklage-Anwältin vertritt. Kopfschüttelnd hört sie die Aussage an. Ihr Mandant hatte im Herbst die Vorwürfe der Staatsanwältin in nicht-öffentlicher Aussage bestätigt. Er durfte in einem Nebenraum befragt werden, damit er dem Angeklagten nicht begegnen musste; eine Konfrontation hatte eine Gutachterin als „Gefährdung des Kindeswohls“ bezeichnet. Der inzwischen 16-Jährige gilt als traumatisiert, traut sich kaum auf die Straße, wie seine Mutter als Zeugin erzählte. Er glaube nicht an eine Traumatisierung, lässt der Angeklagte erklären. Bei seiner Aussage habe Marvin manchmal gestottert, das habe er immer getan, wenn er gelogen habe.
Eine Sache räumt der 46-Jährige zum Schluss ein: „Ich weiß, dass es nicht richtig war, dass ich Marvin bei mir aufgenommen habe. Das tut mir heute auch alles sehr leid.“
Noch Fragen? Die 8. Strafkammer wird zumindest von diesem Mann keine Antworten mehr bekommen: Rückfragen, hat die Verteidigung vorher erklärt, werden nicht gestattet.