Rostock. Eine Frau, die nichts mehr zu verlieren hat, dreht durch: Warum der Rostocker „Polizeiruf 110 - Sabine“ im Ersten ein grandioses Krimidrama ist.
Dieses Gesicht. Von den täglichen Demütigungen jeder Mimik beraubt, einfach nur blass, müde, und leer. Diese kraftlose Frau, die nach all den Lebensniederlagen nur noch durch den Alltag taumelt, ihrem K.o. entgegen, ehe sich ihr Frust explosionsartig entlädt – sie erobert als Titelfigur den Rostocker „Polizeiruf 110 - Sabine“ (ARD, Sonntag, 20.15 Uhr) mit einer Wucht, dass man sie man so schnell nicht vergessen dürfte.
https://cms.cloud.funkedigital.de/esc-pub-tools/methode/resources/ver1-0/images/article.pngMan hätte kaum geglaubt, dass es in der Rostocker Reihe, dem Prunkstück deutscher Serienkrimi-Unterhaltung, noch finsterer zugehen könnte, als man es von ihr kennt. Doch Stefan Schaller (Regie) und Florian Oeller (Buch) blicken mit teils schmerzhafter Intensität in die seelischen Abgründe der Verlierer, sezieren die heruntergekommensten Seiten der Stadt, denen Tim Kuhn oft mit der Handkamera ganz nah rückt. In den harten Kontrasten jedes Bildes geht kein noch so trauriges Detail verloren. So viel Elend und Verzweiflung war selten.
Der Blick in die Vorhölle
Sabine Brenner ist die Figur, durch deren Augen der Film in die Vorhölle blickt. Der Lohn als Küchenhilfe in der Werftkantine langt nicht, der Strom in ihrer kleinen Wohnung wird abgestellt, die Bank gibt ihr als Aufstockerin keinen Cent mehr, der kleine Sohn soll aufs Gymnasium, aber kann sie als alleinerziehende Mutter überhaupt eine Klassenfahrt bezahlen, fragt die Schulleiterin ohne einen Funken Verständnis.
Nichts funktioniert, und das gilt auch fürs Drumherum: Die Werft, in der Sabine aushilft, wird von einem (etwas klischeehaften) Finanzschnösel (Lucas Prisor) gegen den Widerstand des wackeren Betriebsrats (Alexander Hörbe) abgewickelt, ihr Ex-Mann ist seit Ewigkeiten arbeitslos, der schreiende Nachbar im Plattenbau verprügelt seine Frau jeden Abend. Zeit, sich die alte russische Pistole in den Mund zu schieben.
Eine Frau sieht Rot
Luise Heyer verleiht dieser gequälten Sabine Brenner eine berührende emotionale Tiefe. Wie sie mit dünnem Stimmchen beinahe tonlos jeden Rückschlag wegsteckt, ehe sie zur Waffe greift, um vom Opfer zur Täterin zu werden, von der Wendeverliererin zur Scharfrichterin, das ist ein preiswürdiger Auftritt. Es ist zudem keine oberflächliche Eine-Frau-sieht-rot-Dramatik, die hier zurechtgefriemelt wird, sondern in der Ruhe der Inszenierung, die sich Regisseur Schaller in diesem „Polizeiruf“ genehmigt, eine völlig glaubhafte Entwicklung.
Als Sabine Brenner ihren ersten Mord begeht und danach auf dem Balkon eine qualmt und lächelt, geht die Perspektive auf das Ermittlerduo über. Bukow (Charly Hübner) und König (Anneke Kim Sarnau) sind als Gespann längst zu groß geworden, um ihnen nicht genügend Platz einzuräumen.
Und da die beiden nach Jahren des gegenseitigen Umkreisens in der letzten Rostocker Folge im vergangenen Juni doch im Bett gelandet sind, bieten nun auch die zwischenmenschlichen Kapriolen Sprengstoff: Irritationen lassen der Romantik erstmal keine Chance. Klappt das mit dem liebenswerten Straßenköter und der von Zweifeln durchsetzten und verkrampften Profilerin?
Mit viel Schnaps im Blut
Wie die beiden bei der Trauerfeier für Bukows verstorbenen Halbwelt-Vater mit viel Schnaps im Blut den Ton-Steine-Scherben-Song „Halt dich an deiner Liebe fest“ gemeinsam grölen, gehört jedenfalls zu den anrührendsten Augenblicken, die der Rostock-Polizeiruf seinem Publikum bisher gegönnt hat.
Möge es noch lange so weitergehen.