Ruhrgebiet. Die Weihnachtszeit als wohl härteste Zeit des Jahres: Bis zu 160 Sendungen stellt ein einzelner Paketbote pro Tag zu. Einblicke in einen Knochenjob.

Vier Minuten. Das ist die Grenze, die Martin S. sich selber setzt. Wenn er nur vier Minuten oder weniger braucht für jedes Paket, dann erreicht der Hermesbote die Prämienzone. Dann verdient er mehr als den gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro. In diesen Tagen teilt ihm das Lager gern mal 160 Pakete zu – ein Drittel mehr als üblich. Und auch diese Menge schafft Martin S., selbst wenn er bis 21 oder 22 Uhr treppauf, treppab spurtet, sechs Tage die Woche, ohne echte Mittagspause, die Weihnachtszeit nur ein Rauschen aus Parkplatzsuche, Treppenhäusern und flüchtigen Gesichtern.

Die Arbeitszeitfalle schnappt schon beim Beladen zu

Martin S., dessen Namen wir geändert haben, muss anonym bleiben, denn er berichtet uns ungefiltert von seinem Arbeitsalltag. Der beginnt gegen 9 Uhr an einem Satelliten-Depot im Ruhrgebiet. Die robotischen Wunder moderner Logistik sucht man hier vergebens – die Pakete kommen mit Lkws vom Verteilzentrum, werden von Hand in Regale sortiert; und Martin S. muss nun jedes Paket wieder einscannen, in einen Rollwagen legen und in seinen Transporter schaffen. Eine Dreiviertelstunde bekommt er dafür angerechnet. „Aber in der Weihnachtszeit reicht das nicht. Oft hinkt schon der Lkw-Fahrer hinterher – und du hilfst ihm dann sogar beim Entladen, damit du schneller wegkommst.“

Ein Grund für die Verzögerungen ist das explosive Wachstum des Internethandels. Hermes erwartet im Dezember 1,6 Millionen Sendungen in den drei Ruhrgebietsniederlassungen Essen, Dortmund und Hagen – rund 16 Prozent mehr als im Vorjahr. Und bei der Konkurrenz sieht es ebenso aus.

Die Weihnachtszeit geht auf die Knochen

Darum schaffen die Paketdienste derzeit Tausende Stellen – die Spitzen bleiben dennoch. Und Weihnachten geht den „Männern der letzten Meile“ auf die Knochen. „Weinkisten sind das größte Übel“, sagt der 51-jährige S., der seinen Job eigentlich als „ein Fitnesstraining“ betrachtet. Vor zwei Jahren aber, zur Weihnachtszeit, hat er doch gemerkt, dass sein Körper nicht mehr wollte. Das Knie schmerzte so höllisch, dass er nicht mehr die Kupplung treten konnte. Also fuhr ein Freund den Transporter, Martin S. humpelte die Pakete zur Tür. Damals war er noch selbstständig – Subunternehmer des Depots mit mehreren angestellten Fahrern. Hätte er die festgeschriebene Menge an Paketen nicht bewältigt, hätte Hermes eine Spezialtruppe geschickt – mit immensen Kosten für Martin S. Darum setzte sich einen heiklen Tag lang sogar seine 81-jährige Mutter ans Steuer.

Wenig Gewinn, hohes Risiko für den Subunternehmer – und immer wieder Ausfälle bei seinen Angestellten: „Krank, keine Lust, Lappen weg“. Das Risiko erschien Martin S. schließlich als zu hoch. Er ließ sich wieder direkt anstellen beim Depot – dessen selbstständiger Betreiber selbst „immer wieder am Rande der Insolvenz steht“, sagt Martin S. „Aber der nächste Doofe steht schon bereit. Man hat schon den Eindruck, dass das ein bisschen zynisch läuft.“

Ein Markt unter hohem Kostendruck

Auf die Depotbetreiber und ihre Subunternehmer fokussiert sich der Kostendruck im System Hermes, nun da die Zusteller am Ende der Kette weitgehend nach Mindestlohn bezahlt werden. Letzteres lässt Hermes nach eigener Auskunft auch vom TÜV überprüfen. Zahlen zu Insolvenzen der Partnerbetriebe gibt es aber nicht.

Für die Gewerkschaft Verdi liegt es in den verschachtelten Betriebsstrukturen der Transportbranche begründet, dass viele Selbstständige „hart an der Grenze zum Prekariat“ arbeiten, so Sprecher Jan Jurczyk. Und auch der Mindestlohn ließe sich umgehen, indem man Pauschallöhne an unrealistische Zeitvorgaben oder Stückzahlen knüpft. Das sei nicht rechtens, aber in jedem Einzelfall müsste sich der Arbeitnehmer wehren.

„Der Markt steht unter enormem Kostendruck“, gibt auch Andreas Schumann vom Bundesverband der Kurier-Express-Post-Dienste zu: „Es gibt dann sicher auch Unternehmer, die in die Selbstausbeutung gehen oder sich für einen nicht-gesetzlichen Weg entscheiden. Solche Einzelfälle sind nicht auszuschließen.“

Der Effizienzdruck verdrängt die Teilzeitarbeit

Mindestlohn-Tricksereien hat Martin S. nicht beobachtet. Das Gesetz habe für ihn nicht viel verändert, es habe aber Kollegen aus dem Job gedrängt, die weniger Pakete fuhren, zum Beispiel weil sie auf 450-Euro-Basis arbeiteten. Dazu trage auch der Effizienzdruck bei. Hermes stellt schon länger um auf eigene Fahrzeuge – ein Fortschritt für Martin S., der anfangs vor acht Jahren noch im eigenen Auto fuhr. Die Versicherungen der Hermes-Transporter sind aber so teuer, dass sie ausgelastet werden müssen.

Verdi nennt Paketboten, „die täglich bis zu 14 Stunden fahren, eine Gefahr für die Allgemeinheit“. Das Gesetz lässt zwar nur zehn Stunden zu, und Hermes sagt, das werde vom TÜV überprüft. Doch Martin S. arbeitet derzeit regelmäßig deutlich länger. Und diese endlosen Tage gehen auch an ihm nicht spurlos vorüber. Es ist mehr als einmal vorgekommen, dass Martin S. nur noch kurz an den Computer wollte und aufwachte mit dem Kopf auf der Tastatur.