Soest.. Die Gebeine von bis zu 100 Menschen, nur notdürftig im Schlamm vergraben, haben Archäologen in der Innenstadt von Soest gefunden. Richtig bestattet wurden die Leichen nicht, “eher entsorgt“, sagt der Soester Stadtarchivar. Er vermutet, dass es sich um Verstorbene aus einem Waisenhaus handelt.

„Dieser Mensch muss unglaubliche Schmerzen vor seinem Tod durchlitten haben.“ Im Unterkiefer des Schädelknochens, an der Kinnpartie, klafft ein kleines, kreisrundes Loch, auf das Dr. Walter Melzer, Stadtarchäologe von Soest, zeigt. Ein Abszess, eine eitrige Entzündung, hat den Knochen zu Lebzeiten der Person vermutlich langsam, aber unaufhaltsam zersetzt. Vorsichtig legt Melzer den Schädel zurück auf einen Tisch. Der Kopf gehört zu einem nahezu vollständig erhaltenen Skelett aus einem Massengrab, das im Dezember in der Soester Innenstadt entdeckt worden ist. Mit dem Ende des Winters haben jetzt die Ausgrabungen begonnen.

Tod und Leben liegen aktuell in der Hansestadt mit ihrer 1000-jährigen Geschichte dicht beieinander. Aus der belebten Fußgängerzone biegt eine Gasse in Richtung Wiesenkirche ab. Nur ein paar Fußschritte vom Einkaufstrubel entfernt, liegt, an der Waisenhausstraße 11, ein Baugrund brach. Im September ist dort das Finanzamt gewichen; ein Kaufhaus soll auf dem Grundstück in die Höhe wachsen. Bei der Untersuchung des Bodens ist die Stadtarchäologie auf das Massengrab gestoßen.

Die meisten Menschen wurden nur auf einem Totenbrett bestattet

4 x 16 Meter misst der Streifen, der jetzt von einer Zeltkonstruktion überdacht und durch einen Bauzaun gesichert ist. Ein Totenfeld mitten in der Innenstadt. Schädel, Rippenbögen, Wirbel, Arm- und Beinknochen; kein Anblick für schwache Nerven.

Es ist eine vermutlich Jahrhunderte alte Anklage, die stumm in der Erde liegt. „Bis zu 100 Menschen“, vermutet Stadtarchivar Melzer, „sind dort verscharrt worden“. Von Beerdigung möchte er nicht sprechen. Eher von Entsorgung.

Das Fehlen nahezu jeder Bestattungskultur „ist äußerst selten“, ordnet Dr. Melzer den Soester Fund ein: Dem Stadtarchivar ist nur ein einziger vergleichbarer Fall aus Nordrhein-Westfalen vom Ende der 1990er-Jahre in Münster bekannt. Ins „18. bis 19. Jahrhundert“ datiert Melzer die verscharrten Toten von Soest. Wer die Menschen waren, woher sie kamen, woran sie gestorben sind? Die Fragen sind noch offen. Der Stadtarchäologe hofft, dass die moderne Wissenschaft Antworten findet. Bislang gibt es nur Vermutungen.

Stammen die Leichen aus einem Waisenhaus?

Melzer geht davon aus, dass es sich bei den Bestattungen um Verstorbene aus einem Waisenhaus handelt, das später, bis 1908, zum Stadtkrankenhaus wurde. Die Verstorbenen sind dabei einfach außerhalb einer Umfassungsmauer des Gebäudes im Auenschlamm eines Bachlaufs verscharrt worden.

Das Waisen- und Krankenhaus ist in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs bei Luftangriffen zerstört worden; Ende der 1950er-Jahre entstand auf der Fläche das Finanzamt.

Bevor die Brache jetzt neu bebaut wird, helfen Archäologie-Studenten der Universitäten Bochum und Mainz dem Soester Stadtarchiv bei der Ausgrabung der Toten. Zuvor wird das Grabfeld genau dokumentiert: gezeichnet, vermessen und fotografiert. Die Gebeine kommen ins Stadtarchiv, werden dort gewaschen und getrocknet – aufbereitet für eine anthropologische Untersuchung in Köln. Davon versprechen sich Melzer und Heinze Aufschlüsse über „Geschlecht, Alter und Todesursache“. Vielleicht auch über die Herkunft der Verstorbenen. „Es können auch Durchreisende oder Soldaten gewesen sein.“

Das Holz der Totenbretter soll helfen, das Datum der Bestattungen genauer einzugrenzen.

Geheimnis vom Leben und Sterben entlocken

Wissenschaftler untersuchen die Jahresringe in den Hölzern und gleichen sie mit einem Baumringkataster ab.

„Kulturhistorisch ist der Fund sehr interessant “, urteilt Dr. Walter Melzer: Wenn es den Wissenschaftlern gelingt, mit ihren Untersuchungen den menschlichen Überresten ihr Geheimnis vom Leben und Sterben zu entlocken.