Grefrath..

Erst taute die dünne Schneeschicht, dann verschwanden die Teddybären, die unzähligen Kerzen und die flehenden Briefe von dem Parkplatz, auf dem die Kleidung des Vermissten gefunden wurde.

„Sag uns, wo Mirco ist“, stand auf einem der Plakate. Wer in diesen Tagen, etwa ein halbes Jahr nach dem Fund der Leiche von Mirco S., in die 16 000-Seelen-Gemeinde Grefrath im Kreis Viersen zurückkehrt, sucht vergeblich nach Überbleibsel. Kein Kreuz, kein Mahnmal. Und wieder stellt sich diese Frage: Wo ist Mirco? Wo die Trauer um den zehnjährigen, semmelblonden Jungen, die ein ganzes Dorf, eine ganze Republik wochenlang in Ohnmacht versetzte? Eine Spurensuche zum heutigen Prozessbeginn.

Manfred Lommetz, Grefraths parteiloser Bürgermeister, sagt die Dinge so, wie er sie denkt, wie sie der Ehrenvorsitzende des ortsansässigen Fußballvereins auch seinen Kumpels erklären würde. Er sagt nüchtern: „Das Leben geht weiter. So traurig und so beschissen das auch ist.“

Der Fall Mirco sei, so Lommetz, vergleichbar mit der Tragödie in Fukushima: Genauso wie die Trauer im Dorf über ihren verlorenen Sohn anhält, strahlen auch die Atomkraftwerke weiter. Es rede nur niemand mehr drüber. „Entscheidend war, dass der Täter gefasst wurde. Sonst wäre hier wohl nie Ruhe eingekehrt“, sagt Lommetz.

Die Angst vor den grausamen Details

Diese Ruhe, so fürchten die Grefrather, könnte schon bald wieder dahin sein. Wenn wieder die Fernsehteams das Örtchen belagern und der Prozess die grausamen Details der Tat zu Tage fördert. Wie Mirco S. entführt, missbraucht und stranguliert wurde, wie lange er gequält wurde von seinem mutmaßlichen Peiniger Olaf H. und warum. „All diese Details kennen die Kinder nicht“, ist auch Helmi Röhrig besorgt. Sie ist Schulleiterin der Hauptschule, die auch Mirco besuchte. Mittlerweile hat sie einen Elternbrief verfasst. Sein Inhalt: Sollten die alten Traumata wieder aufbrechen, stünde ein Psychologe in der Schule bereit. Neulich pflanzten Lehrer und Klassenkameraden einen Apfelbaum. „Das ist Mircos Baum. Und wenn die Kinder traurig sind, gehen sie dorthin und denken an ihn.“

Wenn andere dieses Bedürfnis verspürten, Gerührte, Mitfühlende, dann pilgerten sie zum einzigen Friedhof des Dorfes. „Anfangs standen mehr als 20 Kerzen auf Mircos Grab“, erzählt Friedhofssteinmetz Heinz-Willi Brinkhoff. Heute stehen da, liebevoll angeordnet, eine Tigerente, eine Sonnenblume, ein kleiner Traktor – und ein Schild, mit der sinngemäßen Bitte: keine Kerzen mehr abstellen, Familien-Rückzugsort.

Eltern bleiben dem Prozess fern

Wenn Mircos Eltern abseits des Friedhofs Trost suchten, fanden sie bei Pastor Norbert Selent einen geeigneten Spender. Schon wenige Stunden nach dem Verschwinden von Mirco rief ihn Vater Reinhard an. Selent reagierte gelassen: „Innerhalb der nächsten 48 Stunden wird sich das sicher aufklären.“ Eine Fehleinschätzung. Heute sagt er: „Sie bringen sich wieder in unserer Kirche ein. Sie sind sehr gefasst. Doch unsere Seele ist sehr sensibel gestrickt – nur eine einzige Frage oder eine Schilderung vor Gericht kann großen Schmerz auslösen.“ Deshalb werden Mircos Eltern nur als Zeugen aussagen und dem Prozess fernbleiben.

Die Nachbarin der Familie spricht von einem fröhlichen Jungen, der gern Ball spielte – und diesen nicht selten in ihren Garten schoss. „Der Mirco war so ein Lieber.“ Dann bricht ihre Stimme weg. „Ich hab’ das immer noch nicht verarbeitet.“ Das Leben, so traurig, so beschissen es auch ist, geht eben doch nicht überall einfach so weiter.

Auf dem Türschild steht noch Mircos Name

Auch nicht für die Eltern. Auf dem Türschild ihres Backsteinhauses ist noch immer der Name ihres Sohnes zu lesen. Und im Fenster steht der Satz: Es geht kein Mensch über die Erde, den Gott nicht liebt. Frei nach dem Motto: Recht spricht nur der liebe Gott. Doch das sehen längst nicht alle so im Dorf. Hört man sich um, wollen sie alle nur eins: Gerechtigkeit – und hadern hinter vorgehaltener Hand schon jetzt mit der deutschen Rechtsprechung. Zu lasch, zu human.

Bürgermeister Lommetz, zugelassener Jurist mit besten Kontakten zu den Ermittlungsbehörden, hält indes nur ein Strafmaß für möglich: „Lebenslänglich mit anschließender Sicherungsverwahrung. Für mich müsste der Prozess nur einen Tag dauern.“ Das wünschen sie sich alle. Die Eltern. Und das ganze Dorf.