Köln.. Die Kriminalbeamten stehen vor vielen offenen Fragen. Klar aber ist: Wären die Sprengsätze explodiert, wäre ihre Wirkung verheerend gewesen.


Der rote Koffer ist seitlich verkohlt, in der ledernen Aktentasche klafft ein Loch; man muss sie nicht öffnen, um zu sehen: Was wie Gepäck aussah, waren Bombenkoffer. Gaskartuschen brachte der Täter von Köln mit in den Hauptbahnhof, umwickelt mit Klebeband und Alufolie, präpariert mit Stahlkugeln. Hätte die Hitze des angezündeten Benzins gereicht, sie hätten „eine ungeheure Sprengkraft entwickelt“, sagt Kripo-Chef Klaus-Stephan Becker am Tag danach. Was hatte der Geiselnehmer vor?

Darüber rätselt die Polizei auch am Dienstag noch. Ein Anschlag, ja. Ein terroristischer? Das bleibt unklar. In der Wohnung des 55-Jährigen im Stadtteil Neuehrenfeld finden die Ermittler Montagnacht arabische Schriftzeichen an der Wand. Muslimisch seien sei, islamistisch nicht. Die Polizei bestätigt, dass der Mann einmal einen anderen anschwärzte, der zum IS ausreisen wolle. Seine zwei Handys werden nun ausgewertet.

Gefundener Ausweis gehörte zum Täter

Sein Gepäck voll mit Gaskartuschen ließ der Täter zurück.
Sein Gepäck voll mit Gaskartuschen ließ der Täter zurück. © Unbekannt | Unbekannt


Sicher wissen die Fahnder inzwischen, dass der Ausweis am Tatort tatsächlich zum Täter gehörte. Danach ist er ein syrischer Flüchtling, der im März 2015 nach Köln kam. Sein Aufenthaltsrecht gilt bis Juni 2021. In Deutschland hat der Mann einen Bruder und einen Sohn, der bereits vernommen wurde. Seine Frau ist noch in Syrien, stellte zweimal vergeblich einen Antrag auf Familienzusammenführung. Wer die Tunesierin ist, deren Freilassung der 55-Jährige gefordert hatte, ist offen. Die Polizei kennt den Mann, 13-mal wurde er seit Sommer 2016 auffällig: wegen Besitzes von Marihuana, wegen Diebstahls, Betrugs und Hausfriedensbruchs. Eine Anklage läuft.




Nun wirft die Staatsanwaltschaft ihm versuchten Mord, gefährliche Körperverletzung, Geiselnahme vor. Die Polizei veröffentlicht am Dienstag ein Video, das zeigt, wie Kripo-Chef Becker sagt, „wie viel Glück die Kunden im Imbiss hatten“. Es ist nur ein kurzer Film, keine Minute lang, aufgenommen von der Überwachungskamera eines Burger-Ladens. Aber sie lassen erahnen, wie knapp Köln an einer Katastrophe vorbeigeschrammt ist.

Man sieht das Mädchen, wie es bestellt, dann an der Theke wartet. Und man sieht den Syrer, Tasche und Rollkoffer bei sich. Hinten im Lokal steht er, bei den abgeräumten Tabletts. Plötzlich beginnt er, Benzin zu verschütten. Erst wenig, dann immer mehr. Auf den Polizeifotos sieht es aus, als habe er den Treibstoff in Limo- und Ölflaschen mitgebracht. Eine junge Frau rafft ihre Sachen zusammen, rennt aus der Tür, drei, vier andere Gäste verlassen fluchtartig die Filiale. Nur das Mädchen an der Theke erkennt die Gefahr nicht, bis es das Benzin riecht. Doch da ist es zu spät, da wirft der Täter ein Streichholz in die hochbrennbare Flüssigkeit. Im Bruchteil einer Sekunde verpufft das Benzin in einer großen Stichflamme, die den Teenager erfasst. Dann brechen die Bilder ab.

Die „täuschend echte“ Waffe entpuppt sich als Softair-Pistole

Offenbar, so ermittelt die Polizei später, setzt sofort die Sprinkleranlage ein und löscht das Feuer schnell. Der Täter stürmt daraufhin hinaus, lässt das Gepäck zurück. In der Apotheke nebenan nimmt er eine Mitarbeiterin als Geisel, hält ihr eine Waffe an den Kopf, die „täuschend echt“ aussieht, aber nur eine Softair-Pistole ist. Nach zwei Stunden stürmt das SEK, der 55-Jährige wird von mehreren Kugeln getroffen, wiederbelebt und notoperiert. Am Dienstagnachmittag ist er außer Lebensgefahr, liegt aber im künstlichen Koma.

Die Ermittler können ihn noch nicht befragen: Was hatte er vor, warum, gab es Mittäter? In seiner Wohnung in einem mehrheitlich von Flüchtlingen bewohnten schmucklosen Haus entdecken sie weitere „beträchtliche Mengen“ Benzin, so viel, dass die Feuerwehr wegen des Gestanks erst einmal lüften muss. Offen, woher der Mann das Benzin hat, wie er zum Hauptbahnhof kam.

Dort, wo sieben Stunden lang kein Zug mehr fahren durfte, sind die Menschen am Tag danach schon wieder zum Alltag übergegangen. Nur einige Fernbahnen haben noch Verspätung, und der Ausgang zum Breslauer Platz, wo die Apotheke liegt, bleibt vorerst gesperrt. Flatterband weht vor der Tür, Polizisten passen auf, dass niemand hindurch klettert. In der Burgerfiliale nebenan läuft der Betrieb normal. „So schnell“, sagt ein Kunde, „wird hier bestimmt nichts mehr passieren.“

>>> EIN TYPISCHES ZEICHEN FÜR TERRORISTEN

Den Täter konnten die Ermittler identifizieren, weil sie am Tatort seinen Ausweis fanden. Dies könnte ein Indiz für einen terroristischen Hintergrund sein: Auch nach den Anschlägen von Berlin oder Nizza hatten die Attentäter persönliche Dokumente zurückgelassen.


Die Polizei bittet Zeugen um Hinweise, falls jemand den Täter möglicherweise bei der Anreise oder dem Kauf von Benzin und Gas gesehen hat. Sie hat ein Telefon geschaltet: 0221 229-4444. Unter nrw.hinweisportal.de können Fotos und Videos hochgeladen werden.