Haltern.. Die Schülerin Linda Bergjürgen (15) aus Haltern gehört zu den 149 Opfern des Germanwings-Absturzes vom 24. März 2015. Wir sprachen mit ihrer Mutter Stefanie über das letzte Jahr. Und über die Zukunft.

Linda Bergjürgen wäre jetzt eigentlich in einer High School in Texas in den USA. Die Schülerin aus Haltern wollte die Welt kennenlernen. So war der Plan, der vom Schicksal aufs Grausamste durchkreuzt wurde. Linda ruht auf einem Friedhof in ihrer Heimatstadt Haltern. Sie saß im Germanwings-Flug 4U9525 von Barcelona nach Düsseldorf, der vor einem Jahr, am 24. März 2015, von Co-Pilot Andreas Lubitz zum Absturz gebracht wurde. Die 15-Jährige gehört zu den 149 Opfern der Katastrophe. Wir sprachen mit ihrer Mutter Stefanie Assmann über das letzte Jahr. Und über die Zukunft.

Am Donnerstag ist der traurige Jahrestag. Wie werden Sie ihn verbringen?

Stefanie Assmann: Wir reisen nach Frankreich, an den Absturzort in den Bergen. Um 10.41 Uhr, der Absturzzeit, wird es eine Schweigeminute geben. Die Namen der Opfer werden verlesen, wir singen. Ich weiß nicht, wie es wird, aber ich bin froh, mit den anderen Angehörigen dort zu sein. Den Tag zu Hause zu verbringen wäre fürchterlich.

Wie haben Sie vor einem Jahr von dem Katastrophe erfahren?

Assmann: Mein Mann Willi hatte es bei meinem Vater im Fernsehen gesehen. Er kam dann bei uns hereingestürmt und schrie: „Das Flugzeug ist abgestürzt.“ Mir war sofort klar, dass Linda tot ist. Ich hatte so ein Gefühl. Und keine Hoffnung. Ich bin sonst eine Heulsuse, konnte aber in dem Moment nicht losheulen. Dafür habe ich mich geschämt. Ich war wie in einer Blase. Wir sind dann zum Gymnasium gefahren, waren mit die Ersten dort. Ich bin die ganze Zeit in einem großen Raum Runden gelaufen. Keiner wusste etwas. Um 15 Uhr gab es dann die Pressekonferenz mit der offiziellen Information. Ich hatte Linda noch um 12.20 Uhr eine SMS geschrieben.

Welche Erinnerungen haben Sie an den letzten Kontakt mit Linda?

Lindas letzte Handy-Nachrichten hat sich die Familie ausgedruckt.
Lindas letzte Handy-Nachrichten hat sich die Familie ausgedruckt. © Funke Foto Services | Funke Foto Services

Assmann: Vor der Abfahrt zum Abflug nach Spanien ging Linda aus dem Haus, hat „Tschüss, Tschüss“ gerufen. Ich sehe sie auf dem Beifahrersitz, rückwärts aus der Einfahrt fahren. Ich habe ihr morgens am Rückflugtag noch eine Handy-Nachricht geschrieben. „Wir sind im Zug. Ich zeige dir nachher Fotos“, hat sie geantwortet. Mit Smilies. Diese Banalitäten des Alltags sind so schön und vergraben im Kopf, wie ein Tagebuch, gespeichert in diesem komischen Film, der seit einem Jahr läuft und in dem dich der Bundespräsident auf einmal in den Arm nimmt. Wissen Sie, wir sind ganz normale Menschen. Man denkt immer das passiert nur anderen.

Wie ging es nach der Unglücksnachricht am Absturztag weiter?

Assmann: Mit einem Leben unter einer Glocke. Meine Freundin Eva ist sofort gekommen und Klaus, ein Freund von meinem Mann Willi. Die haben sich um uns gekümmert und unseren Sohn Christian versorgt. Ich konnte essen, habe geschlafen. Durchgeschlafen. Und mich dann gefragt, wie ich ich das machen kann, wenn mein Kind tot ist? In den nächsten Tage hatte ich null Zeitgefühl, nahm Tabletten, habe sie aber wieder abgesetzt, weil ich alles bewusst erleben wollte. Wir hingen in der Luft. Dein Kind ist tot. Es ist passiert und du kannst nichts machen. Alles war so verschwommen. Ich habe einem Freund von einem Gottesdienst erzählt. Er sagte: „Ich saß neben dir in dem Gottesdienst.“

Nach zwei Tagen kam die Nachricht, dass es ein absichtlich herbeigeführter Absturz war.

Assmann: Außenstehende macht das vielleicht fassungslos. Aber tot ist tot. Was kann noch schlimmer sein? Die Umstände waren sehr bitter. Aber die Trauer hat alles andere beherrscht.

Wie hat sich die Lufthansa verhalten?

Ein Haargummi, zwei Blusen, ein Handtuch, ein Schuh: Diese Sachen von Linda wurden an der Unglücksstelle gefunden. Sorgsam liegen sie auf ihrem Bett.
Ein Haargummi, zwei Blusen, ein Handtuch, ein Schuh: Diese Sachen von Linda wurden an der Unglücksstelle gefunden. Sorgsam liegen sie auf ihrem Bett. © Funke Foto Services | Funke Foto Services

Assmann: Die einzelnen Mitarbeiter haben versucht uns zu helfen. Sie waren bemüht. Was uns weh tut: Bis heute hat kein Mitarbeiter der Lufthansa den Weg an unsere Tür gefunden. „Hallo. Ich bin der Herr X oder Frau Y. Wir kümmern uns um Sie. Wir sind für Sie da.“ Das ist doch das Naheliegendste. Und manche Sachen gingen gar nicht. Die ersten SMS waren alle in Englisch. Eine Woche nach dem Absturz wurden wir per SMS an das Unglück erinnert. Eine weitere Woche später wurde per SMS die Absturzzeit um zwei Minuten nach vorne korrigiert. Danach war zum Glück Ruhe.

Wann kehrte erstmals wieder etwas Stabilität in Ihr Leben zurück? Mit der Beerdigung im Juni?

Assmann: Mit dem Sarg wurde wieder etwas real. Die Hoffnung, etwas von Linda zu haben, neben dem Haargummi, zwei Blusen, einem Handtuch und einem Schuh, die an der Absturzstelle gefunden wurden. Als wir im Bus hinter den weißen Leichenwagen durch Haltern gefahren sind, standen links und rechts Menschen, alles war voll und mucksmäuschenstill. Sie haben geweint und sich verneigt. Das war so ergreifend, das kann ich nicht beschreiben. Das war, wenn man das so sagen kann, ein schöner Moment in diesem ganzen Grauen. Diese Minuten werde ich nie vergessen. Wir haben nach der Beerdigung eine Trauerfeier gemacht. Ich wollte Lindas Freundinnen anlocken, die mir von ihr erzählen. In dem Alter sprechen Töchter mit ihrer Mutter ja nicht über alles. Einige sind gekommen, haben erzählt. Für sie war es auch sehr schwer. Nach dem Absturz hat sich ein Junge gemeldet, Jakob, mit dem Linda geschrieben hatte und von dem wir nichts wussten. Es kam aus dem Nichts. Wie eine Botschaft aus dem Jenseits.

Ist nach der Beerdigung mehr Normalität wiedergekommen?

Ich spüre sie fast neben mir. Sie ist aber nicht da.“ Mutter Stefanie im Zimmer ihrer Tochter Linda.
Ich spüre sie fast neben mir. Sie ist aber nicht da.“ Mutter Stefanie im Zimmer ihrer Tochter Linda. © Funke Foto Services | Funke Foto Services

Assmann: Es gibt noch keine lange Normalität. Morgens habe ich immer zwei Kinder fertig gemacht. Sie sind dann immer zusammen aus dem Haus gegangen. Mittags, um zwanzig nach eins, kommt immer der Zug. Alle Kinder steigen aus. Nur Linda nicht. Es gibt Tage, an denen ich nur weinen könnte. Dann begegnen mir Menschen und es wird etwas besser. Und da sind normale Momente zwischendurch. Die helfen sehr. Aber dann ist ein Geburtstag, Weihnachten, Erinnerungen, Schmerz. Ein Lied von Amy McDonald oder Bruno Mars, die hörte sie so gerne, läuft im Radio. Ich bin sofort bei ihr. Es kommt alles zurück. Deshalb sind wir bei Musik oft traurig. Ich merke dann besonders, wie sie fehlt. Ich spüre sie fast neben mir. Sie ist aber nicht da. Manchmal möchte man sich quälen, hört ein bestimmtes Lied. Oder man muss sich selbst überlisten. Auf langen Autofahrten höre ich Hörbücher. Es ist so immer ein Auf und Ab, durch das wir stolpern. Wellen, wie bei Grönemeyers Mensch: „Nach der Ebbe kommt die Flut.“ Das ist banal. Aber passt so gut.

Wie wichtig ist für Sie die Angehörigengruppe der Eltern, mit der Sie sich in Haltern treffen?

Assmann: Sehr wichtig. Dort fühlen wir uns gut aufgehoben. Dort sind Dinge erlaubt, die sonst nicht erlaubt sind. Wir lachen auch mal, sind ausgelassen. Wir haben alle unsere Kinder verloren. Das ist etwas Besonderes. Ich will nichts anderes schmälern. Aber es kamen Menschen, die sagten, sie hätten einen Angehörigen verloren und sie würden wissen, wie ich mich fühle. Ich habe gedacht, das weißt du nicht. Ich verüble das aber niemandem.

In der Nähe von Lindas Grab in Haltern gibt es eine Gedenkstätte für die Opfer.

Assmann: Lindas Grab ist für mich der realste Ort. Ich stehe da und denke, da ist sie. Obwohl ich manchmal nicht kapiere, dass das für immer ist. Es ist ein schöner schmerzhafter Ort auf einem schönen Friedhof. Ein Platz zum Trauern. Und ein Platz der Begegnung. Die Gedenkstätte vermittelt Ruhe, es sind immer Leute da, die Kerzen anzünden. So werden unsere Kinder nicht vergessen. Ich fühle mich wohl, wenn ich dort Menschen treffe. Eine Frau hat mich neulich angesprochen. „Ganz Haltern ist bei Ihnen.“ Das fand ich schön.

Lindas Familie an ihrem Grab auf dem Friedhof in Haltern.
Lindas Familie an ihrem Grab auf dem Friedhof in Haltern. © Funke Foto Services | Funke Foto Services

Wie wichtig waren in dem vergangenen Jahr die Kirche und Ihr Glaube?

Assmann: Unser Pfarrer Karl Henschel war und ist uns eine große Hilfe. Er war von der ersten Minute an da. Ich möchte gerne glauben, aber ich kann im tiefsten Inneren nicht an einen Gott glauben, der so etwas zulässt. Ich habe auch keine Angst mehr zu sterben. Mir tun Predigten gut. Und die richtigen Worte, die geben Hoffnung. Ich zünde in Lindas Zimmer abends Teelichter an. Es klingt spirituell, aber ich habe manchmal das Gefühl, sie schaut vom Himmel auf uns herab. Der Wunsch ist groß und da ist diese starke Sehnsucht, sie wiederzusehen. Gepaart mit dem Gedanken der Enttäuschung, dass da nichts mehr kommt. Ich habe noch nicht alles verinnerlicht. Es ist aber passiert und damit gilt es klarzukommen. Der Verstand hat von der ersten Sekunde an gesagt, dass es vorbei ist. Damit kommt das Herz aber nicht klar. Ich schreibe Botschaften für Linda auf Kerzen, die ich auf ihr Grab stelle. Sie fehlt mir so. Sie fehlt uns so.