Essen/Solingen.. Der Salafist Silvio K. steigt vor den Augen der Polizei zum Isis-Sprachrohr auf. Jetzt wirbt er neue Kämpfer an. Eine frühere Nachbarin aus Solingen erinnert sich an den Mann, einen kleinen schmächtigen, blassen Typ.

„Ja, das ist er“, sagt Angelika H. aus Solingen, als sie das Foto sieht. „Der hat hier gewohnt, direkt über uns.“ Das Bild zeigt Silvio K., ihren ehemaligen Nachbarn. Über den habe sie sich „oft geärgert“, sei „auch mal mit ihm aneinandergeraten“. Heute ist K. ein mit internationalem Haftbefehl gesuchter Terrorist und Angelika H. fragt sich, ob sie den Zoff damals vielleicht übertrieben hat. Das Wort „Kalaschnikow“ irritiert sie. „Ist das nicht so ein Gewehr?“ – nein, das hätte sie ihrem Ex-Nachbarn nicht zugetraut. Aber sie hat andere Auftritte von ihm erlebt. Einige der Mieter können ein Lied davon singen.

Silvio K. zieht von Essen nach Solingen, als alle namhaften deutschen Salafisten dorthin pilgern – in die Nähe der Moschee, des Hauptquartiers der Salafisten-Gruppe Millatu Ibrahim. Mit K. ändert sich die Hausordnung im Wohnblock Schellingstraße 3. „Anfangs war er noch nett, später frech, zuletzt oft aggressiv“, sagt die Nachbarin. Bald ist das Haus mit salafistischen Symbolen ausstaffiert. „Immer mehr Besucher“ hätten „immer mehr Lärm gemacht“.

Und dann diese Nacht.

Polizei durchsucht das Haus

„Es war gegen drei Uhr. Von Schreien bin ich aufgewacht. Jemand hat laut geschrien, wie am Spieß, immer wieder. Das hörte nicht auf.“ Es kommt von oben. Angelika H. rennt die Treppe hinauf, schellt an der Tür. Niemand öffnet. Stattdessen wieder Schreie, offenbar von einem Mann. Die Nachbarin ruft die Polizei. Dann klingelt sie Sturm. K. öffnet die Tür. Er ist nicht allein in der Wohnung. Alles sei in Ordnung, sagt er. Nein, er brauche keinen Arzt. Seine Besucher hätten ihm „nur den Teufel ausgetrieben“. Die Nachbarin versteht nicht ganz, worum es geht. „Wir wollten die Dämonen quälen“, sagt K., „eine Art Teufelskult“.

Ruhiger wird es im Sommer 2012, nach dem Verbot von Millatu-Ibrahim, dem Verein, der 2011 zum Sammelbecken radikaler Islamisten wurde. Als über 140 Beamte einer Einsatzhundertschaft die Solinger Salafisten-Moschee auf den Kopf stellen, rücken bewaffnete Polizisten auch in der Schellingstraße an. Sie umstellen das Haus, durchsuchen die Wohnung, beschlagnahmen Plakate, Abzeichen, Fotos, ein Handy. Für Silvio K. hat der Einsatz keine Folgen.

Kleiner, schmächtiger, blasser Typ

Er ist früh zu Millatu Ibrahim gestoßen. Gründer ist Mohammed Mahmoud, ein verurteilter Terrorist aus Österreich, der öffentlich zum Mord an Ungläubigen aufruft. Deutscher Wortführer wird Denis Cuspert, als Rapper Deso Dogg bekannt, ehe er zum Islam konvertiert und sich Abu Talha al-Almani nennt.

Cuspert macht sogenannte Nasheeds populär: Kampflieder, die den Heiligen Krieg preisen und als Lohn für Selbstmordanschläge das Paradies versprechen. Die Millatu-Ibrahim-Jünger schwenken schwarze Fahnen mit Schwertsymbolen und rufen: „Bis diese Flagge nicht über dem Vatikan, über Amerika, über der ganzen Welt gehisst wird, gibt es keine Ruhe.“ Hassan K., ein Hassprediger aus Hemer, droht mit einem Glaubenskampf „bis der Kopf fliegt.“

Silvio K. bleibt lange im Hintergrund. Optisch fällt er kaum auf. Ein kleiner, schmächtiger, blasser Typ. Geboren in Burgstädt, Mittelsachsen, zweieinhalb Jahre vor dem Mauerfall. Kindheit und Realschulbesuch am Bodensee. Einer, der mitläuft, wenn andere vorgehen. In Essen trifft er Leute, die vorneweg marschieren: radikale Islamisten. Bald haben Staatsschützer K. auf dem Schirm. Im Fenster seiner Wohnung am Essener Gerlingplatz hängt ein Millatu-Ibrahim-Banner. Aufkleber der Salafisten zieren Klingelschild, Briefkasten und Tür. K. ist Stammgast in der Altenessener Assalam-Moschee.

Sein Freundeskreis wächst. Über Facebook gesellt sich Arid Uka dazu, ein Kosovo-Albaner. Im März 2011 hört Uka ein Nasheed des Dschihadisten Denis Cuspert. Dann fährt er mit einer Schnellfeuerpistole zum Frankfurter Flughafen, erschießt zwei US-Amerikaner und verletzt zwei weitere schwer. Er bekommt lebenslang.

"Das ist eine tickende Zeitbombe", sagen die Fahnder

13 Jahre hat ein anderer Facebook-Freund von K. gesessen: Bernhard Falk, der damals in Dortmund lebt. Auf sein Konto gehen vier Mordversuche, mehrere Bomben- und Brandanschläge. Während der Haft tritt Falk dem Islam bei. Wieder in Freiheit, ruft er zum Glaubenskrieg gegen „die Imperialisten USA/BRD“ auf und bietet Ziele an: den US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein und US-Atombombenlager in Rheinland-Pfalz.

Als K. eine Todeshymne ins Netz stellte und sich von seiner Stamm-Moschee lossagt, befürchten Ermittler einen bevorstehenden Anschlag. Sie halten K. für „extrem gefahrenträchtig“. Seine Essener Wohnung wird durchsucht. Die Fahnder finden Videos mit Terroraufrufen von El Kaida und Isis. Außerdem ein Skript für einen Text, der später bundesweit Aufsehen erregen wird. Es ist der Aufruf zu einem Anschlag auf Kanzlerin Angela Merkel und zu Attentaten gegen die Bundesrepublik.

Für die Fahnder steht fest: „Das ist ein Verblendeter, eine tickende Zeitbombe. Ein absoluter Fanatiker, dem alles zuzutrauen ist.“ Es gibt Polizeiberichte mit entsprechenden Warnungen. Die Sorge: Der Salafist könne in Deutschland zuschlagen oder sich ins Ausland absetzen. Im Landeskriminalamt NRW finden sie kein Gehör. K. bleibt unbehelligt.

Innenministerium: „Im Visier“

„Eines Tages war er dann weg. Abgehauen, ganz plötzlich“, sagt die ehemalige Nachbarin.

K. gelangt über Ägypten und ein El-Kaida-Lager in Libyen ins syrische Kriegsgebiet. Dort schwört er den Treueeid auf Isis-Chef Abu Bakr al-Baghdadi und steigt auf zum deutschen Gesicht der Terrormiliz. Er ist nicht naiv wie sein Intimus Cuspert: Der schiebt nach Recherchen dieser Zeitung eines nachts Wache auf einem Dach in Syrien. Als er ein Flugzeug hört, schießt er wahllos in die Luft. Der Pilot sieht Mündungsfeuer und schießt zurück – mit Raketen. Das Gebäude stürzte ein. Cuspert wird schwer verletzt.

Das NRW-Innenministerium sagt: „Wir nehmen die Reisebewegungen in die Krisenregion Syrien und Irak sehr ernst.“ Gewaltbereite Salafisten, die zurückkehren, seien „ein Sicherheitsrisiko“. Bislang liege ihre Zahl in Nordrhein-Westfalen „im niedrigen zweistelligen Bereich“. Und: „Unsere Sicherheitsbehörden haben sie ganz besonders im Visier.“