Ruhrgebiet. HIV-Infizierte sterben nicht mehr jung, sie werden so alt wie andere auch – wenn sie in Therapie sind. Was manchem neue Probleme bescheren kann.
HIV-positiv. Die Diagnose traf Kai-Uwe P. 2003 völlig unerwartet. Zehn Kilo Gewicht hatte er damals ungewollt verloren, Dauerdurchfälle plagten den 32-Jährigen. Deshalb war er zum Arzt gegangen. „Aber dass es Aids sein könnte? Auf die Idee wäre ich nie gekommen“, erinnert er sich. Heute weiß P., „meine Gürtelrose vier Jahre vor dem Test war schon ein erstes Symptom“.
Die Untersuchungen 2003 zeigten: P.s Helferzellen-Zahl, wichtige Messgröße für die Krankheitsaktivität, lag bei 14. Gesunde Menschen haben um die 600. Werte unter 50 sind „extrem kritisch“, lernte Kai-Uwe P.; zehn Jahre gab er sich damals noch, „und ich dachte, dass es schlimme Jahre werden würden.“
Vergangene Woche feierte der Mann, der nicht wirklich Kai-Uwe P. heißt, seinen 50. Geburtstag. „In kleinen Gruppen, wegen Corona, aber richtig – und bei bester Gesundheit!“. In der schicken Altbauwohnung in einer NRW-Großstadt, wo er mit seinem Mann lebt, erinnern bunte Luftballons noch immer an den Tag, den zu feiern er nicht erwartet hatte.
Arzt: Meine älteste Patientin mit HIV-Infektion ist 87
Tatsächlich überleben inzwischen immer mehr HIV-Infizierte um Jahrzehnte die Diagnose, die noch zu Beginn der 90er-Jahre einem Todesurteil glich. Die Infektion gilt heute als behandelbare, chronische Erkrankung. „Das Durchschnittsalter der rund 1500 HIV-Patienten, die wir jedes Quartal sehen, liegt bei 48 Jahren, die Hälfte ist über 50“, sagt Prof. Norbert Brockmeyer, Direktor des
„WIR-Walk In Ruhr, Zentrums für sexuelle Gesundheit und Medizin am St. Elisabeth-Hospital, Ruhr-Uni Bochum.
Die älteste HIV-Patientin des Düsseldorfer Spezialisten Stefan Mauss, der P. betreut, ist 87! Sie holte sich das Virus vor langer Zeit irgendwann, in Afrika.
„Die Lebenserwartung HIV-Infizierter entspricht heute fast der von Nicht-Infizierten“, erklärt Brockmeyer,
der sich seit 37 Jahren mit dem Thema befasst - unter anderem als Berater für die Weltgesundheitsorganisation. Früher, sagt er, seien die Patienten „schnell und schwer gestorben“. 1996 kam mit der ersten Dreifach-Kombinationstherapie, die die Vermehrung der HI-Viren im Körper langfristig verhinderte, „der erhoffte Durchbruch“. „In den Ländern, wo es diese Medikamente gab, endete das brutale Sterben“, erinnert sich der Bochumer Dermatologe.
20 Tabletten täglich – eine Qual
Doch auch Kai-Uwe Ps. Therapie erwies sich noch als schwierig. An die 20 verschiedenen Tabletten musste er zunächst täglich schlucken, „drei Pillen auf nüchternen Magen, sieben zum Frühstück, sieben abends und in der ersten Zeit auch noch Antibiotika, um einer Lungenentzündung vorzubeugen.“ Er vertrug den Cocktail nicht, sein Arzt mixte ihm einen neuen. Doch gegen den entwickelte sein Körper bald Resistenzen – „echt heavy“ nennt P. jene Zeit, in der er die vier Buchstaben A-I-D-S stets als Damoklesschwert über seinem Kopf empfunden habe und zugleich fürchtete: „Wenn dich HIV nicht kaputt macht, dann erledigen das die Medikamente.“ Doch anderthalb Jahre später war die Viruslast in Ps. Körper schon nicht mehr nachweisbar. Heute schluckt er nur noch eine Pille täglich („die aber zuverlässig und immer sehr pünktlich, sonst rächt sich das!“). Viermal im Jahr sieht er seinen Arzt, lässt zuvor sein Blut untersuchen. Seine Helferzellenzahl, erzählt er stolz, liege aktuell bei 720.
Diabetes, Osteoporose oder Depression sind typische „Begleiterkrankungen“
Nicht allen Betroffenen geht es so gut wie Kai-Uwe P. „Viele HIV-Patienten erreichen heute das Rentenalter. Aber damit auch die Krankheiten des Alters“, erklärt P.s Arzt, Dr. Stefan Mauss, Vorstand der
Deutschen Arbeitsgemeinschaft niedergelassener HIV-Spezialisten (dagnä
). Die, die schon sehr lange krank seien, seien zudem häufig „vorgealtert“, durch die Nebenwirkungen ihrer frühen Medikamente. Wer schon in den 90er-Jahren behandelt worden sei, leide oft an „Lipodystrophie“, einer Fettverteilungsstörung; lagere schlechtes Fett um die Körpermitte herum an, entwickele Übergewicht, Bluthochdruck, Diabetes, Herz-Kreislauf-Probleme, rheumatoide Athritis oder Osteoporose. Über die Hälfte der Patienten über 60, schrieb die Ärzte-Zeitung jüngst, hätten zusätzlich zu ihrer HIV-Infektion „drei und mehr Begleiterkrankungen“, darunter auch Nieren- und Leberfunktionsstörungen oder psychische Probleme.
AOK verbessert die Versorgung Betroffener: Neuer Vertrag mit spezialisierten Ärzten
Die AOK Rheinland/Hamburg hat darum mit den dagnä-Ärzten einen Vertrag geschlossen, der die Versorgung älterer HIV-Patienten verbessern soll. In diesem Monat trat er in Kraft. „Wir sehen bei einem relevanten Teil der HIV-Infizierten ab 50, 60 Pflegebedürftigkeit“, erklärt Vorstandsmitglied Matthias Mohrmann. „Man überlebt zwar, aber multimorbid.“
50 Euro pro Patient und Quartal erhalten Ärzte nun mehr, „damit erkaufen wir uns auch deren Zeit“, sagt Mohrmann – für Extra-Leistungen, eine bessere Behandlung und individuellere Beratung. Älteren HIV-Infizierten wird unter anderem einmal jährlich ein „Arzneimittelcheck“ (Polypharmazie-Evaluation) angeboten – allzu oft weiß der eine behandelnde Arzt heute noch immer nicht, welche Medikamente der andere verordnet hat, kann womöglich riskante Wechselwirkungen also gar nicht berücksichtigen; da HIV-infizierte Menschen ein hohes Risiko haben, an Osteoporose zu erkranken, erhalten sie zudem eine zusätzliche Knochendichte-Diagnostik, auch Ernährungsberatung und solche zu Fragen der „Hilfe im Alltag“ zählen zum Konzept. „Ziel ist es, die Lebensqualität auch im Alter zu erhalten und die Pflegebedürftigkeit hinauszuschieben“, erläutert Mohrmann. Viele der Patienten seien homosexuell, alleinstehend, oft auch einsam im Alter, ergänzt dagnä-Vorstand Stefan Mauss. „Und als schwuler Mann mit HIV-Infektion einen Platz im Altersheim zu finden, ist nicht ganz leicht….“
„Ich werde nicht das Glück haben, so zu sterben wie Udo Jürgens“
Kai-Uwe P. lebt gesund – und sieht auch so aus, er strotzt vor Lebensfreude. „Ich bin der Typ halb volles Glas“, sagt er strahlend, wohl wissend, dass Depressionen eine typische Begleiterscheinung seiner Krankheit sind. Dass ihm Knochen und Gelenke manchmal schmerzen, erklärt er mit „Muskelkater von zuviel Sport“, erzählt lieber von seinem ersten „Schlammlauf“ und dem Halbmarathon, den er bewältigte, dass er selbst im Urlaub trainiere. „Vielleicht“, räumt er ein, „mach ich das nur, um mir selbst zu beweisen, wie fit ich noch bin. Trotzdem hilft’s.“ Im Alltag fahre er Rad, wann immer es passt, und er koche gern, meist vegetarisch, am liebsten mediterran. Mehr als fünf Zigaretten jährlich rauche er nicht; auf Alkohol verzichte er weitgehend. „Das“, meint er, „muss man der Leber ja nicht auch noch zumuten.“
Sorgt er sich dennoch vor dem, was kommen mag? Dass er einmal auf fremde Hilfe angewiesen sein könnte, fürchte er schon, gibt Kai-Uwe P. zu. Heute steht er noch voll im Berufsleben, betreut Langzeitarbeitslose, engagiert sich in seiner Freizeit sozial, fühle sich fitter als Gleichaltrige. „Aber ich werde vermutlich nicht das Glück haben, wie Udo Jürgens mit 80 beim Spaziergang im Park tot zusammen zu brechen.“ Mit seinem Mann, der wie er HIV-positiv ist, arbeite er darum gerade an Testament und Patientenverfügung. Mit Freunden, so kam ihnen dabei in den Sinn, könne man vielleicht irgendwann ja eine Art Alters-WG aufmachen, oder „vielleicht einen gut aussehenden polnischen Pfleger beschäftigen….“.
„Wer HIV hat und therapiert wird, ist nicht infektiös“
Aus seiner Homosexualität macht P. kein Geheimnis, von seiner Infektion dagegen wissen nur engste Freunde. „Warum“, fragt er, „soll ich das erzählen. Wenn ich doch keine Einschränkungen habe und niemanden anstecken kann“. Die Ausgrenzung HIV-Infizierter endete nämlich nicht, als bessere Medikamente begannen, ihr Leben zu verlängern. „Das hat mit einer unterschwelligen Angst vor Ansteckung und dem Tabuthema Sexualität zu tun“, erklärt der Bochumer Experte Norbert Brockmeyer – und gelte auch für
andere sexuell übertragbare Krankheiten
. „Doch wer HIV hat und therapiert wird, ist nicht infektiös“, betont der Arzt, „auch nicht bei ungeschütztem Sex“. Das Problem seien die Infizierten, „die wir noch nicht erreicht haben, die sich noch nicht haben testen oder behandeln lassen.“ Deren relative Dunkelziffer liege heute bei Heterosexuellen deutlich höher als bei Homosexuellen.
>>>>Info: Zahlen und Fakten
Das Humane Immundefizienz-Virus (HIV
) schädigt die körpereigenen Abwehrkräfte. Bleibt eine Infektion unbehandelt, führt sie fast immer zu schweren Krankheiten (Aids). Eine Heilung ist noch unmöglich.
In NRW
lebten Ende 2018 Schätzungen des RKI zufolge 19.300 Menschen mit einer HIV-Infektion, davon
2.200 ohne entsprechende Diagnose
. Jährlich erkranken rund 510 Menschen neu. 110 Infizierte starben 2018.
Bis 2030
werden der Ärzte-Zeitung zufolge,
73 Prozent der HIV-Infizierten in Deutschland älter als 50
sein.
Bei der
A
OK Rheinland/Hamburg
, die große Teile des Ruhrgebiets abdeckt, sind derzeit
5000 HIV-Infizierte
versichert.
1600
von ihnen sind
zwischen 51 und 65 Jahre alt
, zwölf Prozent von ihnen haben nach Angaben von Matthias Mohrmann einen Pflegegrad;
250 sind älter als 65
, von ihnen sei jeder fünfte pflegebedürftig. Nur
400 sind jünger als 30
.
Ein an HIV erkrankter AOK-Versicherter erhält i
m Schnitt fünf bis acht verschiedene Medikamente
. Mehr als
10.000 Euro
zahle die Kasse dafür pro Patient und Jahr, sagt Matthias Mohrmann. Je älter der HIV-Patient, desto mehr Arzneimittel nimmt er den AOK-Daten zufolge.