Duisburg. Nach WAZ-Recherchen könnte der Bröselstein-Skandal eine neue Dimension annehmen. Ein weiteres, bisher nicht als Problem geltendes Steinformat soll billigen Kalkersatz enthalten. Das sagt ein ehemaliger Haniel-Schichtleiter. Inzwischen gibt es mehr als 1500 Bröselstein-Verdachtsfälle und rund 400 belegte Fälle.
Der Bröselstein-Skandal erreicht möglicherweise eine neue Dimension. Nach WAZ-Recherchen könnten deutlich mehr fehlerhafte Kalksandsteine des Haniel-Konzerns produziert und verbaut worden sein als bisher vermutet. Ein ehemaliger Schichtleiter berichtet, mindestens drei Steinformate enthielten den Kalkersatz, der bei Kontakt mit Nässe zerfällt.
Bisher waren Auflösungserscheinungen nur bei den Formaten 2 DF und 3 DF bekannt. Doch auch größere 5 DF-Blöcke sollen anfällig sein.
Haniel-Finanzvorstand Klaus Trützschler sah gestern „nach unserem Kenntnisstand keine Anhaltspunkte“ dafür. Zugleich räumte er ein, dass die Bröselstein-Schäden steigen. Zu rund 400 belegten Fällen kommen inzwischen mehr als 1500 Verdachtsfälle. Im Schnitt kostete Haniel bisher jede Sanierung 100 000 Euro.
Ein Fall taucht in keiner Statistik auf: der Ratinger Mauerfall. Ein ehemaliger Schichtführer erinnert sich an den Tag, „als nur ein Haufen Steine übrig blieb von unserer Lärmschutzwand“. Anfang der 90er-Jahre sei es passiert:
Der Ratinger Mauerfall
Die Kalksandsteine waren neu und optisch einwandfrei, doch der Praxistest beim Hersteller soll spektakulär gescheitert sein. „Die Mauer ist einfach umgefallen“, erinnert sich der Augenzeuge. Die Wand stand im Haniel-Kalksandsteinwerk Ratingen. Sie sollte eine nahe Siedlung vor Lärm von der Ladestraße schützen. „Ein, zwei Jahre“ habe das auch funktioniert, bis zum Kollaps.
Intern habe der Fall Aufsehen erregt, nach außen gedrungen sei nichts. Werksangehörige hätten keine Zweifel gehabt: „Die Calcium-haltigen Kalksandsteine unten in der Mauer hatten Nässe gezogen. Sie zerbröselten nach und nach. Am Ende hat sich die ganze Wand verabschiedet.“
Der Einsturz der eigenen vier Wände – das ist die Horrorvision für Häuslebauer an Rhein und Ruhr, die ihre Domizile in den 80er- und 90er-Jahren oder Anfang des neuen Jahrtausends mit Kalksandsteinen hochgezogen haben.
Weiche Botschaften statt harter Fakten
In der Haniel-Zentrale war der Ratinger Fall gestern „nicht bekannt“. Zu Lachshäppchen und Muffins servierte man weiche Botschaften statt harter Fakten. Wie viele Bröselsteine hergestellt wurden, in wie vielen Gebäuden sie stecken, wann den Betroffenen geholfen wird, wie lange die Sanierungen dauern – konkrete Antworten gab es keine.
Dabei kursierten intern schon vor zwölf Jahren verbindliche Zahlen. Das geht aus Unterlagen hervor, die der WAZ vorliegen. Spätestens im April 2000 kannte Haniel die Risiken. „Um Kosten zu sparen“, seien „150 bis 200 Millionen“ Steine mit billigem Kalkersatz produziert worden. „Unter ungünstigen Bedingungen können Schäden auftreten“, wussten die Verantwortlichen damals.
Neigung zu Ausblühungen und Treibreaktionen
Kein Wunder, denn schon 1987 waren sie von prominenter Stelle gewarnt worden. Da mahnte der Bundesverband der Kalksandsteinindustrie zu Vorsicht mit dem Billigstein. Es handele sich nur „um gipsähnliche Stoffe bzw. Gips“, steht in einer offiziellen Bewertung. Der Verband bemängelte „Minderung der Steinfestigkeiten“, „Neigung zu Ausblühungen“, „Treibreaktionen“ – und riet dringend zu weiteren Tests. „Selbstverständlich“ seien die erfolgt, sagte die Haniel-Spitze gestern. Es habe interne wie externe Prüfungen gegeben. Sämtliche Untersuchungen seien ohne Beanstandung geblieben. Darüber gebe es Gutachten.
Auf den Tisch kam gestern keines. Das sei Sache des Rechtsnachfolgers Xella, jener Firma, die 2002 Haniels Baustoffsparte übernahm, hieß es. Doch Xella schickte kein Gutachten, dafür einen Artikel aus dem aktuellen Ingenieurblatt. Verfasser: die Xella Technologie- und Forschungsgesellschaft. Sie stuft den billigen, zerfallenden Kalkersatz als „Rezepturoptimierung“ ein.
Zehn Jahre Zeit für die Reklamation
Für Bröselstein-Opfer wird die Zukunft zur Zitterpartie. Was sollen sie glauben? Einerseits versichert Haniel Hilfsbereitschaft. Es sei „selbstverständlich, auch gesellschaftlich Verantwortung zu übernehmen“; Betroffene hätten „zehn Jahre Zeit, einen Schaden zu melden“.
Andererseits: Das Lieblingswort des Konzerns im Bröselstein-Skandal heißt „Kulanz“. Die Botschaft dahinter lautet: Haniel macht alles freiwillig; Betroffene haben keinen Rechtsanspruch. Ob die helfende Hand auch ausgestreckt bleiben wird, wenn dreistellige Millionenschäden auflaufen, und wenn Richter Haniel nicht in der Haftungspflicht sehen – dazu schweigt der Konzern.
Viel hängt jetzt an einer Entscheidung des Landgerichts Duisburg. Dort klagt ein 73-jähriger Bergmann auf eine Viertelmillion Euro. Er will nicht nur die Schäden in seinem Bröselhaus ersetzt bekommen, sondern auch den dauerhaften Wertverlust des Gebäudes. Daran ändere eine Sanierung ja nichts. Das Urteil wird im Juni erwartet.