Wesel. . Hier macht das Revier Urlaub: 90 Prozent der Feriengäste auf Deutschlands größtem Campingplatz auf der Insel Grav reisen aus dem Ruhrgebiet an.
Frank Seibt steht jetzt ungefähr da, wo vor 50 Jahren sein Vater gestanden haben muss. Als die Familie zum Picknick gekommen war auf die damals menschenleere Halbinsel Grav bei Wesel. Mit Oma, Opa und den Kindern. Und als Vater Wolfgang auf den Turm einer Ruine kletterte und seiner Frau nach der Rückkehr erklärte „Ich habe eine Vision. Ich sehe ein Meer von Wohnwagen.“ Worauf seine Frau antworte: „Du hast keine Vision, du hast einen Knall.“ Ein halbes Jahrhundert später haben die Seibts den nach eigenen Angaben größten Campingplatz Deutschlands – das Erholungszentrum Grav-Insel.
300 Hektar groß, rund 30 Kilometer Straßen und Wege, 300 Kilometer Hecken, 2000 Plätze für Dauer-, 500 für Kurzzeitcamper, 2,5 Millionen Übernachtungen im Jahr. Streichelzoo und Kanu-Verleih, Wochenmarkt und Krankenstation, Badestrand und Waschsalon – alles geschützt durch einen hohen Deich, den die Seibts in den 90er-Jahren selbst gebaut haben. Eine kleine Stadt, größer als Monaco. Da wundert es nicht, wenn Seibt sagt: „Kommen Sie, wann sie wollen, in der Saison bin ich immer da.“
Supermarkt, Krankenstation und Kinderparadies
Man muss ihn nur finden. Denn irgendwas ist immer und vieles verlangt trotz einer Schar von 50 Mitarbeitern und Handwerkern nach dem Chef. Nach nur fünf Minuten in der Rezeption weiß man als unbeteiligter Zuhörer, dass sich in einer Parzelle Wespen ein Nest im Grill gebaut haben, in einer anderen Sand in die Wasserleitung geraten ist. „Kleinigkeiten“, sagt Seibt. „Das haben wir gleich.“
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Dann hat er Zeit für einen Rundgang. Vorbei am griechischen Restaurant und der italienischen Eisdiele geht es Richtung Veranstaltungshalle und Kinderparadies bis zum verpachteten Supermarkt mit angeschlossener Bäckerei. „Preise wie draußen“, lobt ein Camper. „Nur das Bier ist ein wenig teurer.“ Dafür aber auch kistenweise eisgekühlt. Was vielleicht erklärt, warum an warmen Wochenende angeblich bis zu 2000 Kisten den Laden verlassen.
Jugendgruppen dürfen nicht mehr kommen
Unten am alten Arm des Rheins haben die Saisoncamper von April bis Oktober ihre Wohnwagen abgestellt und Zelte aufgebaut. BOT, E, OB, DU steht auf den Nummernschildern. „90 Prozent unserer Gäste kommen aus dem Ruhrgebiet“, sagt Seibt. Hier macht das Revier Ferien. Gaby (48) und Wolfgang (52) aus Mülheim nicken. „Keine Stunde und du bist in einer anderen Welt.“ Ruhig ist sie und hat ihre eigenen Regeln. Hier wird geduzt, Nachname interessiert nicht, höchstens, ob man für Schalke oder Dortmund ist.
„Grillen, Pilsken trinken und quatschen“, so fasst Matthias (59) seinen Tag zusammen. Ein bisschen halt „wie auf Mallorca“. Nur ohne Ballermann. Vor allem, seit Jugendgruppen nicht mehr auf den Platz gelassen werden. Zu laut und zu betrunken. „Wir sind für die Familien da“, sagt Frank Seibt. „Hier sollen sich alle wohlfühlen.“ Das macht Matthias. Sehr sogar. „Irgendwann komme ich vielleicht für immer.“
300 Camper leben dauerhaft auf dem Platz
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Da wäre er nicht der erste. Rund 300 Menschen sind vom Tages- erst zum Saison-, dann zum Dauercamper geworden und leben nun ausschließlich auf dem Campingplatz. Peter Pesch ist einer von ihnen. 73 Jahre ist er und hatte in der Stadt „eine Riesenbude“. „Viel zu groß für meine Frau und mich.“ Deshalb hat er vor zehn Jahren alles verkauft und ist auf die Grav-Insel gezogen. Bereut hat er seitdem nur, dass „ich das nicht schon zehn Jahre früher gemacht habe“.
So wie Michael (50) und Susanne (49) Reichstein. Ihre Wohnung in Bottrop haben die begeisterten Camper vor einiger Zeit aufgelöst, weil es ihnen „in der Stadt schon lange nicht mehr gefallen hat“. „Immer weniger Grün, und wenn du mit den Hunden gegangen bist, war das wie Spießrutenlaufen. Hier ist alles anders.“ Manches muss man mögen. Zum Beispiel, dass es 25 Euro kostet, wenn man an Sonn- und Feiertagen während der Mittagsruhe mit dem Auto an den sorgfältig geschnittenen Hecken über den Platz fährt. Seibt kassiert und spendet das Geld für wohltätige Zwecke.
Gedenkstätte „Einmal Camper, immer Camper“
Unbekannte Gesichter werden schnell misstrauisch beäugt, wenn sie zwischen den Parzellen herumlungern, gerne auch gefragt. „Wer sind Sie?“ Kann man aufdringlich finden; aber genau das ist es, was Susanne Reichstein und den meisten anderen gefällt. Viel zu anonym sei es in der Stadt. „Hier achtet man aufeinander. Hier kann ich auch noch spazieren gehen, wenn es dunkel ist, ohne dass ich ein mulmiges Gefühl habe.“
So werden sie bleiben. Viele für immer. Bis sie sterben. Und selbst dann gehen sie nicht ganz. Auf dem Rückweg stoppt Seibt an der „Gedenkstätte“ – drei Holzkreuze mit Platten auf denen derzeit 633 Namen eingraviert sind. „Für die Freunde, die für immer zum großen Campingplatz abberufen wurden“ steht darüber. „Wir vergessen“, sagt Seibt, „niemanden. Einmal Camper, immer Camper.“