Coesfeld. Im Kreis Coesfeld können Kunden ohne Corona-Test einkaufen gehen. Die Freude der Einzelhändler hält sich dennoch in Grenzen. Ein Besuch vor Ort.
Martin Blaszczyk steht im Coesfelder Einkaufszentrum Kupferpassage und wartet vor dem Modegeschäft Tara-M auf Kundschaft. „Ich habe das Gefühl, dass die Leute gar nicht mehr wissen, was Sache ist“, erzählt der 29-jährige Verkäufer. „Die Kunden sind sichtbar genervt.“ Um zwei Drittel sei das Geschäft in den vergangenen Wochen eingebrochen. Verübeln könne er das den Leuten nicht. „Wir sind froh, dass wir überhaupt öffnen können“, so Blaszczyk. Trotzdem gebe es Tage, an denen er sich die Frage stelle: „Warum stehe ich hier eigentlich noch?“
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Dass der Einzelhandel im Kreis Coesfeld weiterhin öffnen kann, liegt an der niedrigen Inzidenz. Mit einem Sieben-Tage-Wert von 86,8 ist Coesfeld – gemeinsam mit Höxter (71,3) – der einzige Kreis in NRW, der nicht unter die bundesweite Corona-Bremse fällt. Die Bürger im Kreis Coesfeld können weiterhin nach Termin-Buchung shoppen – und brauchen dafür kein negatives Testergebnis. Dennoch sei die Freude bei vielen Händlern getrübt, berichtet Blaszczyk. Der Grund: Verwirrung um die Corona-Auflagen. „Wir bekommen täglich Anrufe: ‚Habt ihr geöffnet‘?“
Während viele Bürger im Kreis Coesfeld aus Verunsicherung lieber zuhause bleiben würden, habe vor allem der Einkaufstourismus aus den Nachbarregionen zugenommen. „Wir haben hier sehr viele Leute aus dem Ruhrgebiet“, erzählt Blaszczyk. „Anfangs sind auch viele Holländer dabei gewesen.“ Der 29-Jährige freue sich über die zusätzliche Einnahmequelle. „Andererseits birgt der Tourismus natürlich die Gefahr, dass auch bei uns die Infektionszahlen nach oben gehen. Ich sehe das mit einem lachenden und einem weinenden Auge.“
Coesfelder Verkäuferin: „Die Menschen sind verunsichert“
Rund 100 Meter entfernt sortiert Claudia Althoff im Spielefachhandel „Spielekiste“ neue Ware ein. „Füllen Sie bitte einen Anmeldezettel aus und nehmen eine Tasche“, ruft die 47-jährige Mitarbeiterin quer durch den halben Raum. Anschließend nimmt sich Althoff Zeit für ein Gespräch. „Die Menschen sind verunsichert, das stimmt auf jeden Fall“, bestätigt die Verkäuferin. „Außerdem merken wir, dass die Leute sehr gezielt einkaufen.“ Es gebe kaum noch Kunden, die durch die Geschäfte bummeln. „Das ist definitiv anders als sonst.“
Auch Inhaberin Erika Eismann beobachtet, dass das Kundeninteresse in den vergangenen Wochen abgenommen hat. „Man sieht ja die Fußgängerzone“, so Eismann. „Es ist ruhig.“ Dass Coesfeld mittlerweile die zweitniedrigste Inzidenz in NRW hat, führt die Inhaberin auf den Corona-Ausbruch im Schlachtbetrieb Westfleisch zurück. Anfang Mai 2020 hatten sich rund 300 Mitarbeiter infiziert. Der Kreis Coesfeld zählte zwischenzeitlich zu den fünf Regionen in Deutschland mit der höchsten Neuinfektionsrate. „Das hat die Leute etwas wachgerüttelt“, glaubt Eismann.
Aktuell bewegt sich die Inzidenz in Coesfeld seit fast einem Jahr unter dem NRW-Schnitt. „Wie sich die Zahlen weiterentwickeln, ist schwer zu sagen“, so Hartmut Levermann aus der Pressestelle des Kreises. „Zuletzt ist die Infektionskurve kontinuierlich langsam angestiegen, aber das ist ein Blick in die Glaskugel.“ Als mahnendes Beispiel nennt Levermann Münster. Die Nachbarstadt habe wochenlang kaum Neuinfektionen registriert – bis ein Cluster in einem Obdachlosenheim die Inzidenz auf über 100 steigen ließ.
Ladeninhaberin: „Es geht weiter, egal wie“
Auch Eismann wagt keine Prognose, was die kommenden Wochen ergeben: „Ich bin kein Hellseher, das kann keiner sagen.“ Die Inhaberin hoffe wie alle anderen, dass ihr Laden möglichst lange geöffnet bleiben kann – notfalls auch unter strengen Corona-Auflagen. „Ich habe keinen Einfluss darauf, ob bald wieder ‚Click & Collect’ vorgeschrieben wird“, sagt Eismann. Ans Aufgeben verschwende sie aber keinen Gedanken. „Es geht weiter, egal wie“, gibt sich die Inhaberin kämpferisch. „Habe ich eine Wahlmöglichkeit? Nein!“
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Während Eismann spricht, betritt Anika den Laden. Die Sozialpädagogin aus Gescher im Kreis Borken greift nach einer Einkaufstüte und registriert sich über die Luca-App. Sie sucht nach einem Kinderbuch. „Bei uns zuhause bräuchte ich einen negativen Test, um einkaufen zu gehen“, erzählt die 31-Jährige. Zwar werde sie an ihrem Arbeitsplatz zweimal wöchentlich getestet, „aber darüber kriege ich keinen Nachweis“. Aus diesem Grund sei sie nach Coesfeld ausgewichen, um nicht extra ins Testzentrum fahren zu müssen. „Das ist natürlich nicht Sinn und Zweck der Sache“, sagt Anika selbstkritisch. „Aber ich brauche das Buch für die Arbeit: Was soll ich tun?“
Ohne klares Einkaufsziel vor Augen schlendert Werner durch die Kupferpassage. „Ich habe mein Auto zur Inspektion gebracht und genieße so lange das schöne Wetter“, erzählt der 69-jährige Rentner aus Reken. Er verfolge die Infektionszahlen zwar täglich im Fernsehen, komme aber trotzdem durcheinander. Dass es im Kreis Coesfeld keine Testpflicht gibt, hört Werner zum ersten Mal: „Das ist ja toll“, so der Rentner. „Dann kann ich ja Samstag mit meiner Frau in die Stadt fahren.“