An Rhein und Ruhr. Lungenspezialist Dr. Voshaar fordert die Betrachtung der tatsächlichen Krankheitslast und warnt vor Alarmismus. Positiv: Weniger Todesfälle.
- Die Lage um der Intensivstationen beschäftigt aktuell Medizin und Politik. Viele Krankenhäuser haben Angst vor überfüllten Intensivstationen.
- Der Moerser Lungenspezialist Dr. Voshaar bewertet die Lage der Intensivstationen durchaus ernst, warnt aber vor Panikmache.
- Er will weg vom „Kult der Inzidenzwerte“ und hin zu einer Betrachtung der tatsächlichen Krankheitslast.
Der Moerser Lungenspezialist Dr. Thomas Voshaar warnt vor Alarmismus in der dritten Coronawelle. Dass seine Meinung nicht sonderlich populär ist, ist ihm allerdings bewusst. Öffentlich erklärt er, von einer Überlastung der Intensivstationen durch Covid-19 Patientinnen und Patienten sei man in Deutschland noch weit entfernt. Und das in einer Zeit, in der die Kölner Uniklinik von vollen Intensivstationen spricht, Kranke mancherorts umverteilt werden müssen und die Politik in der Folge über weitere Verschärfungen der Schutzmaßnahmen diskutiert.
„Als Arzt sollte man in der derzeitigen Situation doch eher Ruhe und Gelassenheit ausstrahlen und nicht zwei Mal am Tag die Panik schüren“, beginnt Voshaar das Gespräch. Im vergangenen Jahr hatte er sich durch das „Moerser Modell“ einen Namen gemacht. Er gehört nun zum Beraterteam von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. Voshaar sieht keinen Grund für Alarmismus. „Ich finde die Kommunikation einiger Intensivmediziner gegenüber der Politik nicht redlich, immerhin bleibt den Politikern nichts anderes, als sich auf die Experten der Medizin zu verlassen – an ihren Worten hängt alles.“
Intensivbetten sind in Deutschland nicht knapp
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Um seine Aussagen zu verdeutlichen, rechnet er vor. „Wir haben in Deutschland aktuell 22.000 Intensivbetten zur Verfügung, ungefähr 5000 sind aktuell durch Covid-Patienten belegt“, also eine Auslastung der Intensivstationen bedingt durch Covid-19 von 20 bis 25 Prozent, je nach genauen Werten. „Jetzt sprechen alle von wenig freien Intensivbetten, dabei macht Covid nur ein Viertel aus.“ 17.000 Betten bleiben in der Rechnung übrig. Die anderen Betten seien zum Teil für Notfälle wie Herzinfarkt und Unfälle, also Unvorhersehbares. „Dafür werden üblicherweise 10.000 bis 15.000 Betten freigehalten, so bleiben aber noch 2000 bis 7000 Betten übrig.“
Und da liegt seine Kritik. „Die Krankenhäuser haben zwar zur Not die Betten, wollen aber wieder in den Alltag zurück und die verschobenen Eingriffe ausführen.“ Eine ältere Dame mit Vorerkrankung müsse nach Einsetzen ihrer neuen Hüfte vielleicht für ein paar Tage auf die Intensivstation, auch wenn es sich hier um einen planbaren Eingriff handelt. Diese Eingriffe im Notfall zu verschieben, sei „nicht schön, aber es geht“. Außerdem habe der Bund im vergangenen Jahr mit viel Geld für 10.000 neue Intensivbetten gesorgt – „weil die Angst vor Szenen wie in Bergamo so groß gewesen ist“. Zwar könne er die Personalnöte auf den Intensivstationen nachvollziehen, doch „das Problem ist bereits seit zehn Jahren bekannt“.
Intensivstationen sind nicht gleich belastet - Pandemie verläuft in Clustern
Die Situation herunterspielen will er allerdings nicht. „Es ist eine schwierige, belastende Situation für alle. Für die Politiker, Ärzte, Krankenhaus Personal.“ Im Gespräch wird klar, Dr. Voshaar denkt überregional und bezieht sich auf die Ausbrüche als Cluster, nicht als generelle Welle. So können die Kölner Intensivbetten voll, die Krankenhäuser überlastet sein und bei der Politik Alarm rufen, aber in Bottrop oder auch im Kreis Wesel noch ausreichend Betten frei sein. Für den wirklichen Notfall ließen sich die Kranken auch verlegen, meint der Mediziner. Die Realität sei immer abhängig vom jeweiligen Infektionsgeschehen.
Auch im Moerser Bethanien sei die Stimmung wechselhaft, gibt Voshaar zu. „Es gibt seit einem Jahr immer wieder Phasen, da wird man müde und hat keine Lust und Energie mehr. Dann kann man wieder Menschen retten und schöpft wieder neue Kraft.“ In seinem Krankenhaus herrsche ein großer Teamgeist, Krisen könnten durch Gespräche aufgefangen werden, doch es handele sich um anstrengende, belastende Arbeit. „Aber wir befinden uns in der letzten Schlacht. In zwei, drei Wochen wird sich die Lage auf den Intensivstationen wieder entspannen“, ist er sich sicher.
Weg vom Kult der Inzidenzwerte - Krankheitslast ist entscheidend
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Und weitere positive Nachrichten dürfe man nicht außer Acht lassen. „Wir bemerken gerade einen ganz erfreulichen Trend, die Sterblichkeit in der dritten Welle ist deutlich rückläufig.“ Die Impfungen und der einhegende Schutz der besonders Gefährdeten zeige seine Erfolge. Ein Grund mehr für Voshaar, vom „Kult der Inzidenzwerte“ abzusehen. Immerhin sei die magische 100er-Marke festgesetzt worden, bis wohin die Gesundheitsämter noch Infektionsketten verfolgen könnten – davon sei man sowieso weit entfernt.
Trotzdem will er mit seiner Kritik nicht alle schützenden Maßnahmen torpedieren, sondern plädiert für eine andere Betrachtungsweise der Infektionen. Das, was jetzt entscheidend sei, sei nicht mehr der Inzidenzwert oder die bloße Zahl der Intensivbetten. „Entscheidend sind nicht die Infektionszahlen, sondern die Krankheitslast. Wir müssten anfangen, gezielt auf die Verläufe der Erkrankungen mit Krankenhausaufenthalt zu gucken. Gestaffelt nach Alter, z.B. von 20-30, 30-40 etc., und dann betrachten, wer nur beobachtet wird und wer, wie lange, auf einer Intensivstation bleiben muss.“ So lange die Menschen nicht wirklich krank werden, könne „die Inzidenz auch bei 2000 liegen, das ist dann egal“.
Modell stammt aus der Schweiz
Voshaar orientiert sich dabei an der Schweiz. Hier wird trotz steigender Inzidenzwerte gelockert, da der Anstieg der Krankenhauseinweisungen im Vergleich zu den Fallzahlen relativ langsam verlaufe. In der Theorie könnten die Schutzmaßnahmen wie Ausgangssperre, reduzierte Personengruppen und geschlossene Gastronomien gezielt auf die einzelnen Cluster-Regionen angewandt werden.
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Auch was die Langzeitfolgen von Corona-Infizierten angeht, gibt der Lungenspezialist eine leichte Entwarnung. „Die Aufregung ist übertrieben. Es leiden zwar vergleichsweise viele Erkrankte an dem Fatigue-Syndrom, also unter Erschöpfung und Müdigkeit, aber nach ein paar Wochen oder Monaten ist auch das vorbei. Wichtig ist, es gibt keine Schäden an den Organen.“ So lange es zu keiner künstlichen Beatmung gekommen ist, seien selbst die Lungen von Patienten und Patientinnen, die mit schwer entzündeten Lungen auf der Intensivstation gelegen haben, „nach Abheilung der Krankheit wieder tadellos und ohne Lungenschäden“, betont Voshaar.