Eine Tour zum Kangchendzönga, Heiligtum und dritthöchster Berg der Welt

Die Reise zu den Göttern beginnt mit einem Aufschrei. „Ein einzelner Sitz für uns beide!”, ruft mein Partner erzürnt. Während die Inder um uns herum geschäftig ihr Gepäck verstauen, fährt der rostige blaue Zug langsam an. Er wird uns nach New Jaipalguri bringen – dem Tor zu den sanften, grünen Teehügeln, die in die zerklüfteten, schneebedeckten Berge des Himalaya übergehen. Wir quetschen uns auf unseren Sitz. Und verfluchen den Reiseagenten, der uns beim Ticketkauf verschwieg, dass wir keine Sitzplatzreservierung bekommen haben. „Willkommen in Indien”, begrüßt uns ein junger Inder und streckt sich auf dem Schlafplatz vor uns aus.

Die untergehende Sonne hüllt die Landschaft in orangefarbenes Licht und lindert unseren Ärger. Erfrischend grüne Reisfelder, gespickt mit eleganten Palmen gleiten an uns vorbei, Frauen in farbenfrohen Saris warten an den Bahnübergängen. Männer springen in den gemächlich vorbeifahrenden Zug. Sie quetschen sich unerschrocken durch die Passagiere, verkaufen schreiend und schubsend Snacks und Getränke. Zwölf Stunden später sinkt die Temperatur und die drückende Schwüle verschwindet: Wir sind an den Ausläufern des Himalaya angekommen. Ein Tuktuk, wie die traditionellen Auto- und Motorradrikschas genannt werden, bringt uns nach Siliguri. Hier warten bereits hunderte Jeeps darauf, Reisende zu den Teeplantagen von Darjeeling, Kurseong und Mirik zu fahren.

In den Teehügeln von Kurseong schreiten einige Frauen reihenweise durch die gedrungenen, grünen Teebüsche und pflücken die reifen Blätter. Sie tragen braune Bastkörbe auf den Rücken, die von weißen, schweißgetränkten Bändern um die Stirn getragen werden. Über ihnen thront Cochrane Place, eine zum Hotel umgestaltete britische Kolonialvilla mit weitem Blick über die Teeplantagen bis hinunter in die Ebene von Siliguri. Kurseong liegt auf der Route der „Spielzeug-Eisenbahn”, dem dampfenden Traum der britischen Kolonialisten, der sie jeden Sommer zu ihrem beliebten Ausflugsort Darjeeling brachte. Auf der Veranda von Cochrane Place sitzend, können wir die Engländer gut verstehen: Weit entfernt von der schwülen Hitze und der Herz attackierenden Hektik Kalkuttas bringt dieses Hotel den Reisenden zu Ruhe und Natur.

Von Kurseong aus fahren wir über Darjeeling zur Grenze Sikkims. Obwohl Sikkim einer von 28 Bundesstaaten ist, benötigt man eine schriftliche Erlaubnis, um den Bergstaat zu besuchen. Das Schriftstück ist kostenlos – doch seine Besorgung kann zu einer kafkaesken Begegnung mit der indischen Bürokratie führen. Unser Erlebnis beinhaltete einen mürrischen Beamten, einen Staub bedeckten Schreibtisch in einem Büro mit Bergen voll vergilbter Papierstapel und lange Stunden des Wartens.

An der Grenze zeigen wir stolz unser mühsam ergattertes Papier und bekommen einen Stempel in unseren Pass. Wir betreten Sikkim, eines der letzten buddhistischen Königreiche des Himalayas, bevor es im Jahr 1975 von der Indischen Union absorbiert wurde. Der Staat liegt eingequetscht zwischen Nepal, Tibet und Bhutan, seine Bevölkerung ist ein bunter Mix aus Einwandern dieser Nachbarländer. Um jeglichen Unabhängigkeitsgedanken zu unterdrücken, pumpt die indische Regierung viel Geld in die Entwicklung Sikkims. Heute ist der Bundesstaat wohlhabend im Vergleich zu anderen Gegenden des Landes. Es gibt asphaltierte Straßen, gute Schulen und nur geringe Steuern auf Alkohol.

Die Region ist eine bedeutende Energiequelle für Indien. Dämme und Wasserwerke laugen die einst kräftigen Ströme Sikkims auf dem Weg in die Tiefebene West Bengals aus, mickrige Rinnsale verlieren sich dort in den breiten, ausgetrockneten Flussbetten, wo einst riesige Ströme vorbei rauschten. Die kleine verträumte Stadt Yuksom ist der Startpunkt für viele Treks zum Kangchendzönga.

Mit 8586 Metern ist er der dritthöchste Berg der Welt. Für die Bewohner Sikkims ist er ein Heiligtum. Zusammen mit unserem Führer, drei Trägern und einem Koch starten wir unsere Vier-Tages-Tour nach Dzongri, einem Aussichtspunkt auf 4100 Metern Höhe.

Die Träger sind ihr Geld wert: Sie schleppen Essen, Schlafsäcke, Küchenutensilien. Aufgrund einer ungewöhnliche Regierungsanweisung, müssen alle Trekkinggruppen ihre eigene Ausstattung zu den Berghütten mitbringen. Das führt so weit, dass wir unterwegs auf eine Gruppe von zwölf Russen mit einer Karawane schnaufender Yaks treffen, die vom Gartenstuhl bis zur Tischdecke eine komplette Kücheneinrichtung transportieren. Nicht zu vergessen den sikkimesischen Rum.

Gemäß der russischen Natur bringt der Rum die quirlige Truppe zum Tanzen und Singen, während wir auf dem modrigen Boden unserer Berghütte verzweifelt etwas Schlaf suchen.

Ab 2800 Meter geht die tropisch-nasse Vegetation in einen Rhododendron-Märchenwald über. Rote, gelbe und weiße Blüten umgeben uns, während die Luft immer dünner und das Atmen immer schwerer wird. Wolken und Nebel ziehen vorbei, den Blumenwald mit einer klammen Decke aus Tau umhüllend. Sie lichten sich spontan und geben auf einmal den Blick auf die schneebedeckten Gipfel des Himalaya frei.

Sobald wir stehen bleiben, um die Aussicht zu genießen, zieht eine Wolkenwand vorbei – als ob uns die Götter nur einen flüchtigen Blick auf ihre majestätischen Kuppen gönnten.

Doch in Dzongri werden wir mit der überwältigenden Schönheit der hohen Berge belohnt. Morgens um halb vier klettern wir zur Spitze des 360 Grad-Panorama-Aussichtspunkts. Unsere Lungen ächzen unter der knappen Luftversorgung, wir fühlen uns um Jahre gealtert. Eine halbe, erschöpfende Stunde später begrüßen uns bunte buddhistische Gebetsflaggen. Sie flattern geräuschvoll im eisigen Wind, der ihre Gebete um die Welt trägt. Langsam ziehen sich die ersten Sonnenstrahlen den Kangchendzönga hinunter, einen klaren, blauen Himmel hinterlassend.

In allen vier Himmelsrichtungen sind die weißen Gipfel zu sehen, ein Meer aus Gletschern erstreckt sich vor uns. Ein Tagesbeginn, wie ihn nur die Götter schaffen können.