Cihangir steht wie kein anderes Viertel für die Kulturhauptstadt – mit weltoffenem Großstadtleben und türkischem Alltag

Das Herz von Cihangir schlägt an der Siraselviler Straße, im Teegarten vor der Moschee. In die Jahre gekommene Männer spielen Tavla, eine Art Backgammon. Konzentriert schlürfen sie ihren Chai aus den bauchigen kleinen Gläsern, jenen bitteren schwarzen Tee, der erst ab zwei Zuckerwürfeln zu genießen ist. Andere nippen an der klebrig-süßen Zitronenlimonade, die nach Sommer auf dem Lande schmeckt, aber einen Durst nicht zu löschen vermag. Den teuren Latte Macchiatto gibt es nebenan, in dem schicken Café mit Glasfront, wo sich Köpfe über die Laptops beugen.

Ein kehliges Rufen hallt durch die Straße. Nicht laut, dennoch findet es seinen Weg durch Hauseingänge und Fenster bis hinauf in den dritten Stock. „Hurdaciiiii – kaufe Schrott”. Ein hagerer Mann schiebt einen Holzkarren den Hügel hinauf. Ein altmodisches Telefon mit Hörer und Spiralkabel, ein mechanischer Wecker, eine Kaffeemaschine und verknotete Kabelstränge liegen dort. „Momentan wird hier überall renoviert, da haben wir Altwarensammler viel zu tun”, erklärt Sinan Deviren, Kameraassistent und Trödelhändler und nimmt einen Schluck Chai. Cihangir putzt sich heraus.

INFO

Anreise

Mit Condor ( 01805/76 77 57, www.condor.com) oder Turkish Airlines ( 069/6 50 07 40, www.turkishairlines.de ) ab Düsseldorf direkt nach Istanbul.

Veranstalter

Mit Tui ( 01805/88 42 66, www.tui.com ) eine Woche Istanbul im Drei-Sterne-Hotel inklusive Flug ab Düsseldorf ab 428 Euro. Mit Neckermann Reisen ( 01803/90 10 45,

www.neckermann-reisen.de ) für sechs Tage ab 318 Euro.

Besonderheiten

Individuelle Führungen durch Cihangir auf deutsch bietet Rifat Özer:

rifatoezer@yahoo.com,

0090/53 35 22 29 65.

Kontakt

Fremdenverkehrsamt Türkei,

030/2 14 37 52,

www.goturkey.com

Tatsächlich strahlen die Fassaden der alten Stadthäuser wieder in Hellblau, Gelb oder Zartrosa. Szene-Cafés bieten Kaffee-Spezialitäten und geschmackvolle Bars servieren Raki und Cocktails. Auf der anderen Straßenseite haben kürzlich ein Käse- und ein Weingeschäft, weiter hoch ein Bioladen eröffnet. Wortfetzen in Deutsch, Englisch und Französisch mischen sich unter das Türkisch.

In Cihangir mixen sich weltoffenes Großstadtleben und türkischer Alltag. Das war nicht immer so. Vor zwanzig Jahren mietete Sinan Deviren mit zwei Freunden hier seine erste Wohnung. Das Viertel war heruntergekommen, die Miete konnten sich die Studenten nur mit Mühe leisten. „Damals waren hier Bordelle und Spielhöhlen, und es gab nur zwei Teehäuser”, erzählt er und streicht sich über den glatt rasierten Schädel. Später kamen kleine Leute und das Handwerk. Vom Küchentisch blickt er über den Bosporus auf die Frachter und die vielen kleinen Passagierfähren, die in der Nachmittagssonne fast orange leuchten.

Im Fenster des Maklerbüros nahe der Moschee hängen Wohnungsangebote. Eine einfache Zweizimmerwohnung kostet umgerechnet 130 000 Euro. „Da verändert sich natürlich die Struktur der Bewohner”, sagt Sinan Deviren nachdenklich. Künstler, Ausländer und Filmschaffende wie er selbst entdecken gerade das Viertel unterhalb des überfüllten Taksim-Platzes und der wuseligen Istiklal Straße.

Allem Wandel zum Trotz: Hier ist das ehemalige Pera, wie der europäische Teil Istanbuls von den Griechen genannt wurde, noch spürbar. Bereits zu osmanischer Zeit war diese Seite ein kosmopolitischer Knotenpunkt. Hier lebten Juden und Christen, hier stehen noch ihre Kirchen, Synagogen und Botschaften.

Hinter der Moschee taucht Sinan Deviren hinab in die Gassen von Çukurcuma, in die Vergangenheit. Hier fühlt sich der Nostalgiker zu Hause. Vorbei an einem Schaufenster mit kunstvoll gestapelten Gläsern, in denen die unterschiedlichsten Gemüse von roter Beete, faustgroßen Weißkohlköpfen, roter Paprika und grünen Tomaten in Essig und Salz eingelegt sind.

Die Gassen und Häuser werden schmaler, hin und wieder reckt sich mit letzter Kraft eines der für Istanbul so typischen, in die Jahre gekommenen Holzhäuser in die Höhe. Eine Frau zieht einen Korb voller Einkäufe mit einem Seil hinauf in den zweiten Stock. Nobelpreisträger Orhan Pamuk hat vor zehn Jahren eines dieser Gebäude gekauft. Die Räume waren Schauplatz seines Romans „das Museum der Unschuld”. Hier soll nach der Renovierung auch das gleichnamige Museum seine Tore öffnen – mit all den Alltagsgegenständen, die der Schriftsteller auf Flohmärkten und aus Trödelläden zusammengetragen hat.

Über 50 Trödel- und Antiquitätenläden in Cihangir laden ein zu einer Reise in die Vergangenheit. Schon die Straße wird zum Museum, Ausstellungsstücke animieren zum Eintreten. Das Angebot reicht von opulenten osmanischen Hochzeitskleidern über spitzenverzierten Kolonialschirmen bis zu Einrichtungsgegenständen und Geschirr aller wichtigen Epochen und Stilrichtungen.

„Popcorn” steht auf dem leuchtend orangefarbenen Schild, das den Eingang zu Sinan Devirens Laden ziert. Reisekoffer aus über hundert Jahren sind vor dem Eingang gestapelt, ein überdimensionierter Ventilator aus den 1950er Jahren posiert neben alten Landkarten und Beistelltischen. Seit mittlerweile neun Jahren verkauft Sinan Deviren Trödel, wenn er nicht als Kameraassistent gebucht ist.

Die Sammelleidenschaft hat den 37-Jährigen bereits als Kind gepackt. Damals lebte er im westdeutschen Hamm und „sammelte eigentlich alles, aber besonders begeistert Schlümpfe”. Später waren es Schaukelpferde und Tretroller aus Blech. Da wohnte er schon in Cihangir. Die ersten Trödelläden inspirierten ihn, seine eigenen Stücke zu verkaufen. Doch das ist für einen Sammler gar nicht so einfach. „Zuerst konnte ich mich von meinen Lieblingsstücken nicht trennen. Ich habe die Preise extra hoch angesetzt, damit sie nicht verkauft werden”, sagt er und grinst verschmitzt.

Sein Traum ist, irgendwann vom Geschäft mit der Erinnerung zu leben. Ob es so weit kommt, steht seit der Finanzkrise in den Sternen. „Antiquitäten und Trödel sind doch eigentlich überflüssig. Darauf verzichten die Menschen zuerst”, sagt Sinan Deviren und krault eine Katze, die sich auf dem Fenstersims räkelt.

Und noch etwas stimmt ihn nachdenklich: „Heute haben viele Kinder keine Idee mehr vom Sammeln, es hat keine Bedeutung mehr für sie.” Doch bis dahin erfreuen sich Sammler, Besucher und Bewohner an den Spuren der alten Zeit.

Michaela Ludwig