60 Jahre Volksrepublik: Das Reich der Mitte strebt nach Harmonie – zwischen Provinzen und wuchernden Großstädten

Dunst liegt über der Stadt, nur vereinzelt finden Sonnenstrahlen ihren Weg durch die Häuserschluchten. Der Tag hat gerade erst begonnen, der kleine Park liegt im Schatten. Obwohl es noch früh ist, ist das Grün voller Menschen. Sie lassen Drachen steigen und spielen mit Diabolos. Eine Gruppe Frauen tanzt synchron zu fernöstlicher Musik, neben ihnen hat man Federballnetze über den Fußweg gespannt. In Reih und Glied lassen die Chinesen die Bälle durch die Luft sirren. Inmitten des Trubels bewegt sich ein Mann, langsam, ohne Eile. Ein Schritt folgt auf den nächsten. Der Mann tanzt um einen unsichtbaren Gegner. Tai Chi Chuan.

Jeden Morgen sieht man überall in China Menschen in den Parks Schattenboxen. Sie sind auf der Suche nach Harmonie, denn nur „dem wahrhaft Vollkommenen strömt alles zu”, sagte Lao-Tse, der Begründer des Daoismus. Es ist eine der drei großen philosophischen Lehren des Landes. Für Lao-Tse liegt in der Harmonie der Schlüssel zu Weisheit – und zum Erfolg. Alles muss im Gleichgewicht sein, jedes Yin hat ein Yang. Eigentlich.

„Die Menschen sind mittlerweile total gestresst davon, dass alles ganz offiziell immer harmonisch zu sein hat”, erzählt Frau Li. Sie ist jung, vielleicht 30 Jahre alt und hat ihre Arbeitstasche noch umhängen, obwohl die Sonne schon vor Stunden untergegangen ist. Sie sitzt im Café einer großen amerikanischen Kaffeehauskette am Beihai See in Peking. Der Beihai ist der nördlichste vieler Seen, die sich durch das Zentrum von Chinas Hauptstadt schlängeln. Das Gebiet um den südlichen und mittleren See ist abgeriegelt und streng bewacht. Hier tagt die Kommunistische Partei Chinas seitdem Hu Jintao Präsident ist. Ihr zentrales Anliegen ist der „Aufbau einer harmonischen Gesellschaft”. Nur der nördliche See, der Beihai, ist für die Öffentlichkeit zugänglich. Kleine Bars zieren die Uferstraße, nachts fahren Laternenboote hinaus. Frau Li mag die Gegend nicht. Sie ist ihr zu grell, zu laut. Frau Li ist erst vor kurzem nach Peking gekommen, wollte als Anwältin arbeiten.

Alles muss im Gleichgewicht sein, jedes Yin hat ein Yang.
Alles muss im Gleichgewicht sein, jedes Yin hat ein Yang. © AFP

Die kleine Frau läuft schnell in Richtung Glocken- und Trommelturm, vorbei an unzähligen Polizisten. Die Stadt sei „voller Aufseher, die nur rumstehen, wegen der Feier zum 60. Geburtstag der Volksrepublik”, sagt Frau Li. Dann verschwindet sie im Gewirr der Gassen, der Hutongs, einer Ansammlung traditioneller Häuser. Farblos, im einheitlichen Grau des Betons gehalten. Die Eingänge liegen eng nebeneinander. Überall sind Menschen, Hühner und Fahrräder, stehen Zementsäcke herum und Schubkarren im Weg.

„Peking ist in jeder Hinsicht eine Baustelle”, sagt Frau Li und lacht. Dann betritt sie eine Bar, jeder andere hätte das Lokal von außen übersehen. Innen dann überraschende Geräumigkeit. Viele Zimmer, verschachtelt ineinander, übereinander, hintereinander. In der Mitte liegt ein idyllischer Innenhof, so harmonisch, dass man den Großstadtmief vergisst. „Ich habe meinen Job aufgegeben, weil man in China von Niemanden Informationen bekommt”, sagt Frau Li. Alle Daten und Statistiken müsse man sich selber zusammen suchen. Es sei „schier unmöglich als Anwalt!”. Aber auch Frau Li macht mit bei der großen Geheimhaltung: Eigentlich heißt sie gar nicht Frau Li, aber sie will nicht, dass jemand etwas über sie in der Zeitung liest. Sie will keinen Aufruhr. Sie schwimmt mit auf der Welle der Harmonie.

Frau Li wurde in Shanghai geboren, 3200 Kilometer entfernt von Peking. Aber zwischen Peking und Shanghai liegen Welten. 16 Stunden braucht der Expresszug für die Strecke. Und es ist ein anderes Land, was vor dem Bahnfenster vorbei zieht. Es sind ärmlich gekleidete Menschen, die ihre Rinder entlang der Bahnlinie treiben. Es sind fensterlose Betonbauten, von denen man nicht weiß, ob sie noch im Bau oder schon verfallen sind. Brachliegende Reisterassen. Es sind die letzten Schatten Mao Zedongs, der in den 60er Jahren versuchte China, mit aller Gewalt zu industrialisieren. Er hatte damals Visionen von industriellen Boomtowns. Er scheiterte kläglich. Hunderttausende Genossen verhungerten, weil Bauern als Stahlarbeiter abkommandiert wurden. Als die Bauern nach seinem Tod 1976 wieder Herren über ihre Felder waren, fanden sie nur herunter gewirtschaftete Böden. Die Ernten gaben nichts mehr her. Die Menschen flüchteten in die Städte.

So fährt der Zug durch ein leeres Land, bis er in die nächste Millionenmetropole einrollt, in der Häuser schneller hochgezogen werden, als Menschen überhaupt einziehen können. Dann folgt der nächste verwaiste Landstrich, die nächste städtische Smoginsel. So geht es bis der Zug Shanghai erreicht. Dann ist man wieder im kapitalistischen China. Willkommen bei einer Weltmacht!

Info

Anreise: Mit Lufthansa www.lufthansa.com oder Air China www.airchina.de ab Frankfurt nach Peking oder Shanghai.

Einreise: Mit Reisepass und Visum der chinesischen Botschaft.

Veranstalter: Marco Polo Reisen www.marco-polo-reisen.de bietet eine 15-tägige Rundreise von Peking nach Shanghai für 1299 Euro inklusive Flüge und Übernachtungen. Gebeco www.gebeco.de hat eine vergleichbare 9-tägige Reise mit Peking, Xian und Shanghai ab 895 Euro im Programm.

Besonderheiten: Zu Chinas Höhepunkten gehören die Chinesische Mauer und Pekings Verbotene Stadt. Die Metropole Shanghai fasziniert durch das Nebeneinander von Kolonialvierteln und den bekannten Wolkenkratzerschluchten.

Kontakt: Fremdenverkehrsamt China

069/52 01 35

www.china-tourism.de

Die Stadt hat eine steile Karriere hingelegt. Einst war es die verrufenste Hafenstadt der Welt, ein Moloch voller Piraten, Banditen und Tagediebe. Die meisten Geschäfte wurden im ehemals französischen Teil der Stadt gemacht. Die Franzosen waren laxer mit ihren Gesetzen. Bestechlicher, wenn es darum ging, mal ein Auge zuzudrücken. Und sie teilen mit den Chinesen ihre fast schon manische Verehrung von Speisen aller Art. In den französischen Kolonialbauten fand 1921 auch die erste Versammlung der Kommunistischen Partei statt. Knapp 30 Jahre später kam sie an die Macht – und hat „aufgeräumt”.

Heute ist Shanghai die modernste Stadt auf dem Festland, sie verändert sich so rasend schnell, dass alle drei Monate ein neuer Stadtplan herausgegeben wird. Im Jahr 2005 gab es bereits über 4000 Häuser mit mehr als 20 Stockwerken. Die Stadtfläche ist nur ein Drittel so groß wie die von Peking, aber es leben vier Millionen mehr Menschen in Shanghai. Die Stadt wuchert. Straßen verlaufen kreuz und quer, es geht durch Tunnels und über Brücken. Nachts blinkt und glitzert es aller Orten, die Straßen quellen über vor Menschen. Und was früher nur eine Nebensache der Vollkommenheit und Harmonie war, ist heute für die meisten zum Lebensinhalt geworden: Geld machen.

Zur Zeit macht sich die Metropole schön für die Weltausstellung, die im kommenden Jahr hier stattfinden wird. Tag und Nacht hört man Bagger, sieht das grelle Licht der Schweißgeräte und riecht die frische Farbe an den Gebäuden. Immer höher, immer schneller, immer weiter. Am Shanghai Tower, einem sechshundert Meter hohen Hochhaus, wird gerade gebaut. Shanghai ist die einzige Stadt der Welt mit einem Transrapid. Die Megastadt rast der Zukunft entgegen. Doch nicht jeder hat ein Ticket bekommen. Manche können es sich nicht leisten. Wie der Mann, der unterhalb der Hochhäuser in einer der Gassen seine Hühnchen rupft und genauso wie vor hundert Jahren zum Verkauf anbietet.

Andere haben ihre Harmonie längst gefunden. Wie die Gestalt, die zwischen den Hochhäusern im Park steht. Und gegen sich selber kämpft.