Wenn Max Kälin in seinem Bett liegt, dann sieht er Jesus Christus. Und das tagaus und tagein. Allerdings sieht er den Christus aus seinem Schlafzimmer immer nur von hinten. Doch manchmal, an heißen Sommertagen, mit frischen Südwind und passender Thermik, kommt Max dem Erlöser ganz nahe, dann ist der 53-jährige Schweizer mit Christus auf Augenhöhe. Denn dann packt Max seinen Gleitschirm, fährt hinauf zur 517 Meter über dem Meer gelegenen Pedra Bonita, nimmt unterhalb der Rampe ein paar Schritte Anlauf - und schwebt davon.

An Silvester vier Feuerwerke sehen

Am liebsten mit zahlungskräftigen Gästen, doch wenn der Wind und das Wetter stimmen und gerade keine Kundschaft in Sicht ist, erhebt sich Max auch alleine in die Lüfte. „Wenn ich eine Woche lang nicht geflogen bin, dann brauchst du mit mir nicht mehr reden, dann fehlt mir das Adrenalin”, sagt er im charmanten Schwyzerdütsch. Max Kälin ist einer von 100 Piloten, die in Rio de Janeiro Tandemflüge durchführen dürfen. Etwa 45 000 mal pro Jahr heben die Piloten ab, entweder mit dem Flugdrachen, dem Delta, oder mit einem an Dutzenden von Seilen befestigten Gleitschirm. Doch der Flug um die Christusstatue, die auf über 700 Metern Höhe über Rio de Janeiro thront, ist auch für die professionellen Gleitschirm- und Drachenflieger ein echtes Erlebnis und ein rares Highlight - denn den passenden Wind gibt es nur an wenigen Tagen pro Jahr, und auch dann meist nur für höchstens drei Stunden.

Meist starten die Tandemflug-Piloten, die sich im Clube São Conrado de Voo Livre zusammengeschlossen haben, an der Pedra Bonita und schweben über den geschützten Stadtwald von Rio de Janeiro, den Floresta da Tijuca, und anschließend über den Stadtteil São Conrado. Natürlich sehen sie von unterwegs auch den Zuckerhut, die Lagoa Rodrigo de Freitas und Niteroi, die Schwesterstadt Rios auf der gegenüberliegenden Seite der Guanabara-Bucht. Doch zum Greifen nahe kommen sie diesem Panorama nicht. Viel näher gelegen ist da schon die Rocinha, eine von 760 Favelas in Rio de Janeiro.

Kommt die Polizei, werden Böller gezündet

Hier wohnt Max Kälin seit rund zehn Jahren. Zusammen mit seiner Lebensgefährtin und den gemeinsamen Kindern hat er in der Rua 99, fast ganz oben am Rocinha-Hügel, ein kleines Haus gemietet - und das ist so gelegen, dass Max aus seinem Schlafzimmerfenster direkt Richtung Christusstatue blickt. Obwohl die Rocinha eine Siedlung für eher ärmere Leute ist - um den Ausblick von seiner Terrasse würden Max auch manch reiche Cariocas beneiden, wenn sie denn schon einmal hiergewesen wären. „An Silvester kann ich vier der schönsten Feuerwerke gleichzeitig beobachten - das Feuerwerk an der Lagoa, das in Ipanema, das Mega-Feuerwerk an der Copacabana - und im Hintergrund noch das Feuerwerk in Niteroi.”

Max Kälin ist einer von 100 Piloten, die in Rio de Janeiro Tandemflüge durchführen dürfen. Etwa 45.000 mal pro Jahr heben die Piloten ab, entweder mit dem Flugdrachen, dem Delta, oder mit einem an Dutzenden von Seilen befestigten Gleitschirm.
Max Kälin ist einer von 100 Piloten, die in Rio de Janeiro Tandemflüge durchführen dürfen. Etwa 45.000 mal pro Jahr heben die Piloten ab, entweder mit dem Flugdrachen, dem Delta, oder mit einem an Dutzenden von Seilen befestigten Gleitschirm. © MSG

Doch während die Böller und Raketen am 31. Dezember für Spaß und Freude stehen, haben die Feuerwerkskörper, die wenige Meter neben seiner Wohnung bereit gehalten werden, eine andere Funktion. „Sie gehören dem Wächter, der am Straßenrand sitzt. Sobald die Polizei in die Favela kommt, zündet er fünf Kanonenschläge. Dann weiß jeder Bescheid.” In solchen Fällen bemüht sich Max, schnell nach Hause zu kommen - um sich damit vor Querschlägern so weit wie möglich in Sicherheit zu bringen. Doch derzeit, so versichert Max, sei alles „tranquilo”, momentan herrscht Frieden in der Rocinha. Tagtäglich kommen Touristen in Bussen und offenen Jeeps angefahren, um den Kabelsalat über den Gässchen, die meist nur zu Fuß begangen werden könnten, zu bestaunen. „Die Bewohner hier stören sich nicht an den Besuchern, sie machen sich allenfalls ein bisschen lustig über die vielen Favela-Touristen, weil sie fast alle die gleichen Sonnenhütchen tragen”, berichtet Max.

Die Favela Rocinha wird derzeit von der Gruppe „ADA” beherrscht - Amigos dos Amigos. Diese Gruppe verteidigt ihr Gebiet gegen konkurrierende Banden, kümmert sich aber auch um Witwen und Waisen - und sie sorgt innerhalb der Favela für Recht und Ordnung. „Als ich nach Rio gezogen bin, habe ich anfangs an der Copacabana gewohnt, in den gut gehüteten Hotels. Heute weiß ich, da lebst du viel gefährlicher als hier. Dort schauen alle auf dich und überlegen, ob sie was holen können. Hier fasst dich keiner an. Du bist hier sicherer als in jedem anderen Stadtteil”, versichert Max. Und das, davon ist Max Kälin überzeugt, liegt nicht zuletzt an der 30 Meter hohen Christusstatue, die über der Stadt thront. „Er schaut immer herab - und die Menschen sind religiös, sie sind gläubig. Und etwas Falsches zu machen, direkt unter dem Christus, das ist fast unmöglich."

Info

Lage: Rio de Janeiro liegt an der Guanabara-Bucht im Südosten Brasiliens.

Anreise: Nonstop-Flüge nach Rio gibt es nicht, aber Verbindungen über Madrid, Paris, Lissabon, Miami, Sao Paolo oder Salvador.

Einreise: Reisepass, der noch mindestens ein halbes Jahr gültig ist.

Gesundheit: Man muss mit Ausbrüchen von Dengue-Fieber rechnen.

Paragliding: Gleitschirmflüge mit Max Kälin können über die brasilianische Mobiltelefonnummer 0055-21/88 07-9693 gebucht werden. Per E-Mail ist Max Kälin über die Adresse maxvoolivre@yahoo.com.br erreichbar.#

Sicherheit: Die Kriminalitätsrate in Rio ist hoch, es kann jederzeit zu Eigentumsdelikte, Gewaltverbrechen und Entführungen kommen. Überfälle finden vor allem in weniger belebten Straßen der Innenstädte, an Stränden, sowie auf den Autobahnen zum Flughafen statt. Das Auswärtige Amt rät vom Besuch von Elendsvierteln (Favelas) ab. Bei Überfällen sollte generell kein Widerstand geleistet werden.

Beste Reisezeit: Die Hochsaison dauert von Dezember bis Mitte März, Temperaturen bis zu 40 Grad

Kontakt: Rio Visitors Büro, 06131/60 07 075, www.rioconventionbureau.com.br

Die Christus-Statue, so versichert die in Rio geborene Reiseleiterin Paula Vieira de Madeiros, ist durch und durch brasilianisch. „Es gibt zwar einen deutschen Reiseführer, in dem steht, dass die Statue ein Geschenk aus Frankreich war, aber das ist falsch. Der brasilianische Ingenieur Heitor da Silva Costa hat den französischen Künstler Landowski nachweislich für seinen Anteil am Werk bezahlt.”

Ob die Erlöserstatue brasilianisch oder französisch ist, darauf kommt es Kälin ohnehin nicht an. An seinem Buggy, mit dem er tagtäglich von der Rocinha hinunter zum Strand von São Conrado fährt, flattert demonstrativ ein Schweizer Fähnchen. Unten am Strand von São Conrado findet Max meist seine Kunden. Um keinen Auftrag, der ihm rund 70 Euro einbringt, zu verpassen, lässt er die Badehose lieber zu Hause. „Und wenn ich drei oder vier Flüge pro Woche habe, dann bin ich schon glücklich”.