Shanghai. Zwei Welten in einer - das ist Shanghai. Neben dem supermodernen Stadtteil Pudong, wo sich Wolkenkratzer aneinander reihen oder der westlich geprägten „Concession Francaise“ hat die chinesische Metropole auch viele arme Stadtteile, die man erleben kann. Beispielsweise mit einer Motorrad-Tour.
Ein Bentley Continental fährt vor. Zu lang, zu breit, zu himmelblau. Die Fahrerin, eine zierliche Schönheit Anfang 20, macht sich gar nicht erst die Mühe, das Luxusauto in eine Parklücke zu manövrieren. Sie parkt in zweiter Reihe, stakst auf waffenscheinpflichtigen Stilettos über die Straße und entert ein Café unter schattenspendenden Platanen. In ihrer Dior-Sonnenbrille spiegelt sich das neue Shanghai – die rastlose, nimmermüde Suche von Millionen Menschen nach dem Glück. Neu ist, dass die, die es geschafft haben, nicht mehr nur ans Geldscheffeln und Sparen für die Nachkommen denken. Lieber schmeißen sie ihren Reichtum zum Fenster hinaus. Auch für sündhaft teure Autos.
Noch vor 15 Jahren fuhr ganz Shanghai Fahrrad. Das ist aber nicht mehr schick. Fahrrad fahren Leute, die sich kein Auto oder einen Elektroroller leisten können. Einfache Arbeiter, alte Menschen, Bauern vom Land. Oder eben Expats, fern der Heimat lebende Westler. Davon sieht man erstaunlich viele durch die ehemalige Französische Konzession strampeln. Langnasen in kurzen Hosen und mit kindlich anmutenden Rucksäckchen, die so alternativ-cool tun, als wären sie im Silicon Valley oder im platten Münsterland.
Es riecht nach feuchtem Bambus und Sesamöl
Aber Shane ist noch viel cooler. Und seine Gang erst recht. Ihre schweren Maschinen haben sie ein paar Meter hinter dem himmelblauen Bentley in einer Reihe formiert. Die Gespanne mit den 750er-Boxermotoren sind recht betagt, chinesische Nachbauten der Vorkriegs-BMW R71. Shane Ullman stammt aus Melbourne. Die Liebe zu einer Chinesin hält den Australier in Shanghai fest. Und seine „Insiders“, eine verschworene Gruppe einheimischer Motorradfreaks. Eigentlich dürfen Zweiräder mit Verbrennungsmotor nur in den Außenbezirken der 25-Millionen-Metropole fahren. Doch Shane und seine Sidecar-Gang besitzen eine Sondergenehmigung. Weil sie in den Beiwagen ihrer Oldtimer Touristen kutschieren.
Es gibt keine bessere Sightseeingtour in der Stadt. Shane und seine Gang entführen ihre Kunden in ein Shanghai, wie es die meisten nie zu sehen bekommen. In die klaustrophobischen Gassen in den Häuserknäueln der Altstadt, wo sich das Leben draußen abspielt. Die engen Straßen, durch die die Gespanne langsam tuckern, sind so etwas wie gemeinsame Wohnzimmer, wo palavert, gegessen und von Aufstieg und Reichtum geträumt wird. Es riecht nach feuchtem Bambus und Sesamöl. Das Gezwitscher unzähliger Käfigvögel wetteifert mit Kinderlachen. Über den Gassen sind Leinen gespannt. Im Smog des Fortschritts flattert die trocknende Wäsche.
Starker Kontrast zum supermodernen Stadtbild
Bei aller Armut ist dies eine äußerst gepflegte Nachbarschaft. Die Wege sind blitzsauber. Und die Menschen winken den Fremden in den Beiwagen freundlich zu, die sich trotzdem ein bisschen unbehaglich fühlen, weil sie sich in der Intimität dieses einfachen Lebens zu Recht störend vorkommen. Die „Insiders“ steuern auch wuselige kleine Märkte und exotische Fressgassen an, wo es aus den Garküchen verführerisch duftet und Schildkröten, Flusskrebse und anderes Getier auf Feinschmecker warten. Und bevor die Sinne vollends verwirrt sind, geht es zurück ins romantische Shanghai.
In der Folge des Opiumkrieges gründeten die Franzosen 1849 mitten in der Stadt eine eigene Enklave, die „Concession Francaise“. Sie verfügte über eine eigene Stromversorgung, Busverkehr und sogar ein eigenes Rechtssystem. Aus Frankreich wurden die Platanen importiert, die noch heute den idyllischen Charakter des Quartiers bestimmen. Neben Franzosen lebten in der Konzession auch Engländer, Amerikaner, russische Flüchtlinge, wohlhabende Chinesen und viele Künstler. 1943 wurde der Distrikt an China zurückgegeben. Nach aufwendigen Restaurierungsarbeiten präsentiert sich die ehemalige Konzession in den heutigen Bezirken Luwan und Xuhui in starkem Kontrast zum ansonsten quirligen oder supermodernen Stadtbild. Prachtvolle Kolonialbauten, Art-deco-Wohnblöcke, Balkone an verzierten Hauswänden, und eindrucksvolle traditionelle chinesische Wohnhäuser, die Shikumen: Es ist, als würde sich die Megacity des 21. Jahrhunderts wieder auf ihre alten schillernden Zeiten zurückbesinnen.
Eingerichtet wie ein englischer Herrenclub
Durch Alleen mit nett gestalteten Höfen, wo sich wie im Künstlerviertel Tianzifang Boutiquen, Galerien und Bars mit roten Laternen verstecken, flanieren elegant gekleidete Menschen. Ähnlich muss es damals ausgesehen haben, als Shanghai noch als das sündige Paris des Orients galt. Das lustvolle Kokettieren mit einer lasterhaften Vergangenheit ist aber komplett jugendfrei.
Im Herzen von Shanghai, direkt neben der ehemaligen Residenz von Mao Zedong, befindet sich auch das Jing An Shangri-La. Ein brandneues Hotel, das traditionelle chinesische Wurzeln und modernes Design vereint. Hier endet die Reise mit Shane und seiner Motorrad-Gang. Die Horizon Lounge in der 55. Etage des Hotels ist eingerichtet wie ein englischer Herrenclub, aber rundum deckenhoch verglast. Überwältigend die Ausblicke auf den goldenen Jing An-Tempel, das französische Viertel und den hypermodernen Stadtteil Pudong auf der anderen Seite des Huangpu Flusses.
Der Blick nach unten macht leicht schwindelig. In der Auffahrt des Jing An Shangri-La haben Shane und seine Fahrer neue Beiwagen-Gäste begrüßt. Von hoch oben sehen die Gespanne winzig klein aus. Wie eine Spielzeug-Karawane, die aus der Zeit gefallen ist.