Edertal. Wo heute hübsche Ausflugsboote übers Wasser treiben, trugen sich vor langer Zeit Dramen zu, die glatt den Stoff für einen Hollywood-Blockbuster liefern könnten. Die Edertalsperre in Nordhessen wird 100 Jahre alt - und verfallene Bauwerke unter Wasser zeugen noch vom Schicksal der gefluteten Dörfer.
In dem idyllischen Wald- und Wiesental unterhalb der Burg Waldeck ahnt zu Beginn des 20. Jahrhunderts niemand, was auf die rund 600 Dorfbewohner in Asel, Berich und Bringhausen in den nächsten Jahren zukommen wird. Es ist eine Geschichte wie aus einem Hollywood-Film – mit Vertreibung und Abschiedsschmerz, Promi-Glamour, Tod und Verwüstung. Das Schicksal der heutigen Ferienregion Edersee in Hessen ist untrennbar verknüpft mit einer Talsperre, die in diesem Jahr ihren 100. Geburtstag feiert.
Damals, beim Bau der Edertalsperre von 1908 bis 1914, dachte noch niemand an eine touristische Nutzung. So wie die gepflegten Fachwerk-Häuschen, der romantische Burginnenhof und die uralten Knorreichen an den Schieferhängen nichts besonderes waren, sollte auch der See lediglich der bedeutsamen Weserschifffahrt und dem Mittellandkanal in den trockenen Sommermonaten ausreichend Wasser zuführen. Doch schnell erkannten die findigen Gebrüder Hittdorf das Potenzial des Edersees und wurden zu den Begründern der örtlichen Personenschifffahrt. Heute werden auf dem tiefblauen See nicht nur tägliche Rundfahrten angeboten. Viele Buchten sind wahre Paradiese für Angler, während in anderen Surfer, Segler, Wasserskifahrer oder Taucher ihr Domizil haben.
Niedrigwasser entblößt alte Mauern
Der Grund des Sees ist schließlich eine echte Schatzgrube. In frostigen zehn Metern Tiefe liegt die schauerliche Attraktion: Im trüben Blau des Wassers erscheinen Brücken, Gräber, Grundmauern. Das versunkene Edersee-Atlantis erzählt noch heute die Geschichte vom verzweifelten Kampf dreier Dörfer gegen die Vertreibung. Über die Bittgesuche der Einwohner lachen die Verantwortlichen, der örtliche Gesangverein trägt noch ein trauriges Abschiedslied vor, dann rücken die Soldaten mit ihren Artilleriegeschützen an. „Als ich am Abend den Festplatz verließ, war noch ein frohes Treiben dort. Es beschleicht einen ein eigentümliches Gefühl, wenn man von einer Anhöhe herab auf das friedliche Dorf blickt und sich sagt, das muss verschwinden. Ein hartes, bitteres Muss“, erinnert sich Pfarrer Brand noch Jahre nach der Flutung des Tals. Mauern stürzen ein, Staub liegt in der Luft. Und vier Tage vor dem Weihnachtsfest 1913 melden die Soldaten schließlich: „Berich brennt.“
Heute führen in direkter Ufernähe familiengerechte Radwege rings um den See, Uferpromenaden laden zum Flanieren, Strandbäder zum Badespaß ein. Doch das Edersee-Atlantis hat seinen geheimnisvollen Charme nicht verloren: Bei Niedrigwasser im Herbst kommen Reste der alten Dörfer wieder zum Vorschein. Dann können Touristen auf alten Wegen wandern, Mauerreste der ehemaligen Bericher Klosterkirche besichtigen und die alte Aseler Brücke zu Fuß überqueren, die sonst unter dem Wasserspiegel liegt. Besucher spazieren andächtig zwischen den Betondecken umher, mit denen die Gräber auf den Friedhöfen von Berich und Alt-Bringhausen versehen wurden, und manchmal zeigen sich sogar die Überreste der alten Bericher Hütte mit einem historischen Modell der Sperrmauer an der frischen Luft.
Bundespräsident verweigert Schirmherrschaft
Die Einwohner der ehemaligen Siedlungen haben sich längst an anderer Stelle niedergelassen als eine neue Katastrophe hereinbricht. In der sternenklaren Nacht vom 16. auf den 17. Mai 1943 starten 19 britische Langstreckenbomber zu einer Mission gegen Nazi-Deutschland. Das Ziel der „Operation Chastise“: die Zerstörung deutscher Talsperren. Erst nach Mitternacht erreichen die Piloten der Royal Air Force den Edersee. Mehrere Anflugversuche auf die wuchtige Sperrmauer schlagen fehl, doch die dritte Bombe trifft. Am Morgen des Muttertages, gegen 1.50 Uhr, reißt sie ein riesiges Loch in die Mauer. Augenblicklich schießt eine gewaltige Flutwelle ins Tal. Die Dorfbewohner flüchten auf die umliegenden Hügel, doch viele haben keine Chance: 68 Menschen sterben in den Fluten, allein im Kreis Waldeck fallen über 200 Gebäude den Wassermassen zum Opfer.
Insgesamt 25 Millionen Goldmark verschlang das historische Mega-Projekt im Waldecker Land, das lange unter keinem guten Stern stand. Kaiser Wilhelm II inspizierte samt Kaiserin noch höchstpersönlich die Baustelle, doch zur offiziellen kaiserlichen Einweihung kam es nie. Zwei Wochen vor dem geplanten Festtermin im Sommer 1914 war der erste Weltkrieg ausgebrochen. Auch Joachim Gauck hat dem Edersee jetzt eine Absage erteilt. Die Schirmherrschaft des Jubiläums wollte der Bundespräsident nicht übernehmen. Doch das Schicksal der Region hat sich gewandelt. Inzwischen ist der Edersee, mit 27 Kilometern Länge einer der größten Stauseen in Deutschland, zu einem wahren Touristen-Magneten avanciert. Und dank der umfangreichen Sanierungsarbeiten in den 90er Jahren ist die Talsperre garantiert fit für die nächsten 100 Jahre.