Hollywood entdeckt die Stadt, die selbst filmreife Geschichten erzählen kann
Nach Görlitz zu fahren, ist wie eine Zeitreise. Das haben auch Quentin Tarantino, Jackie Chan und Kate Winslet entdeckt. Sie alle standen zwischen den wunderschönen Bauten auf dem Untermarkt, wo die alten Bürgerhäuser mit den verschnörkelten Fassaden und den geschwungenen Giebeln neben den rustikalen Kaufmannshäusern stehen. Die Hollywood-Stars kamen nach Görlitz und stellten sich vor, sie seien woanders. Chan war im alten Paris, Winslet im Heidelberg vor dem Zweiten Weltkrieg, Tarantino spielte Kriegsszenen nach. In Görlitz fällt es leicht zu vergessen, dass man sich im 21. Jahrhundert befindet. Die Stadt hat kaum Kriegsschäden erlitten und fast alle historischen Bauten der Altstadt sind mittlerweile wieder hergestellt.
Görlitz ist die östlichste Stadt Deutschlands. Sie entstand im Mittelalter an der Stelle, wo die Neiße die „Via Regia”, die alte Handelsstraße von Kiew bis nach Santiago de Compostela, kreuzte. Die Händler brauchten Platz für ihre Wagen und Güter. Deshalb entstanden rund um den Untermarkt Hallenhäuser, Gebäude mit riesigen Erdgeschossen, wo die Kaufleute ihre Waren lagern konnten.
Das Restaurant „St. Jonathan” am Untermark ist ein solches Haus. Schreitet man durch die Gewölbe, deren Wände und Decken mit floralen Mustern bemalt sind, wird einem bewusst, wie bedeutend diese kleine Stadt einst gewesen sein muss. Wie viele Menschen hier wohl reich geworden sind? Wie viele Menschen wohl die Sage von dem wunderschönen Städtchen in die Lande getragen haben? Heute ist es Hollywood, das mit seinen Geschichten kommt und das Publikum verzaubert.
Dabei hat Görlitz selbst einige filmreife Geschichten in seinem Fundus. In der Fleischerstraße gibt es ein Haus, an dem das in Stein gehauene Bild einer Frau hängt, die aussieht, als würde sie aus dem Fenster blicken und nach jemandem Ausschau halten. Sie wartet auf ihre Tochter, sie ist nach der Messe nicht nach Hause gekommen. Vielleicht ist sie die Straße hinunter gelaufen, zum Obermarkt, dem Platz der heute als Parkplatz dient und von kleinen Geschäften gesäumt ist. Und hat dort die Leute gefragt: „Habt ihr meine Tochter gesehen?” Vielleicht ist sie runter gelaufen, zum Klosterplatz, wo die Kirche steht, hat an der Tür gerüttelt, doch sie war verschlossen. Die halbe Nacht hat sie nach ihrem schönen Kind gesucht, hat am Fenster gesessen und gewartet.
Am nächsten Morgen erfährt sie es von einem Handwerkersburschen, der auch in der Messe war. Von weit weg kam er. Vielleicht wiesen ihm die gotischen Türme der Peterskirche den Weg, hell leuchten sie gegen den Himmel. Vielleicht kam er über den Fluß, an dessen anderem Ufer Zgorzelec liegt, einst ein Stadtteil von Görlitz, heute zu Polen gehörend. Er ging den Hügel hinauf, Richtung Marktplatz, ihm taten die Füße weh, er wollte sich ausruhen. Doch die vielen kleinen Cafés, die in der Altstadt verstreut sind, gab es damals noch nicht. So lief er am Rathaus vorbei Richtung Obermarkt, als er die Glocken der Dreifaltigkeitskirche läuten hört. Er tritt ein und schläft aber vor Erschöpfung ein.
Als er erwacht ist es düster in den Hallen, nur auf dem Altar brennt noch ein Licht. Die Kirche ist abgeschlossen, der Pförtner muss ihn übersehen haben. Ein Geräusch hat ihn geweckt. Das dumpfe Klappern von Holzschuhen, die hier in der Gegend auch Klötzelpantoffeln genannt werden, auf dem Steinboden, begleitet von einem schleifenden Geräusch. Eilig versteckt er sich in den gotischen Gebetsstühlen. Ein Mönch schreitet durch die Tür, hinter sich her zieht er ein Mädchen – bewusstlos. Er schleift sie über den nackten Boden. Vor dem Altar bleibt er stehen, öffnet eine Steinplatte im Boden und wirft das schöne Mädchen in ein Verlies.
So erzählt es der Jüngling. Man kann sich vorstellen, wie die Stadt beginnt, den Mönch zu suchen. Wie sie durch die engen Gassen rennen, über das Kopfsteinpflaster stolpern, wie ihre Schritte in den Torbögen hallen. Wie jemand ruft: „Ich habe ihn, den Schuft.” Wie er versucht zu türmen, in ein Haus rennt, durch die Gewölbe, durch die Hintertür hinaus, durch den kleinen Garten, in dem ein Springbrunnen lustig vor sich hin plätschert, über die rote Mauer aus Sandstein und hinein in das Labyrinth der Gassen. Er rennt vorbei an den Häusern, auf die Görlitz so stolz ist: Der alten Börse mit dem mächtigen Eingansportal; vorbei an der alten Rathausapotheke, die zwei Sonnenuhren an ihrer Fassade aufgemalt hat – doch den Stand der Zeit kann er in seiner Hast nicht erkennen. Er rennt vorbei an dem Haus „Alte Waage”, ein helles Gebäude, dessen Erdgeschoss von dunklen, ionischen Säulen getragen wird.
Die Meute ist ihm auf den Fersen, doch dann verschwindet er spurlos. Kennt er vielleicht die Pforten zu den Gängen, die es unter der Stadt geben soll? Am Ende umstellt man das Kloster, das es heute nicht mehr gibt. Die letzten Franziskanermönche haben es im 16. Jahrhundert verlassen, ob der Klötzelmönch daran mit Schuld trägt, ist nicht überliefert. Der Mönch wird gefasst, er gesteht. Das Mädchen findet man im Verlies und nach guter Hollywood-Manier verliebt es sich in seinen Retter und alle leben glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende. Alle, außer dem Kötzelmönch. Der wurde bei lebendigem Leibe eingemauert und seine Seele geistert seitdem durch die Gebäude rund um die Dreifaltigkeitskirche.
Aber wer weiß, vielleicht wird der Geist bald auch eine Filmrolle bekommen? Ab Ende August wird in Görlitz „Goethe” gedreht.
Info: Görlitz-Information & Tourist-Center, 03581/47 570, www.goerlitz.de – für Reise-Angebote und Stadtführungen.