San Sebastián de la Gomera. Die Kanareninsel La Gomera ist berühmt für ihren Nationalpark Garajonay mit seinem immergrünen Lorbeerwald. Und für die einheimische Pfeifsprache Silbo, mit der sich Hirten über Schluchten hinweg unterhalten können. Beide haben sind Unesco-Weltkulturerbe - und beide sind bedroht.

Isidro Ortiz freut sich, wenn Besucher den Weg zu ihm finden. Der 83-Jährige lebt alleine mit seinen Katzen in Chipude, einem hoch gelegenen Dorf auf der kleinen, zerklüfteten Kanareninsel La Gomera. Heute gibt es nur noch 200 Menschen hier, vor zehn Jahren waren es dreimal so viel. Die meisten sind in die Inselhauptstadt San Sebastián gezogen oder haben auf der größeren Nachbarinsel Teneriffa Arbeit gefunden.

"Früher hüteten wir Ziegen und betrieben Ackerbau, doch jetzt bestimmt der Tourismus unser Leben", sagt Isidro. Heute ist der Mann eine Berühmtheit weit über die Insel hinaus. Er hat den Silbo gomero, die einheimische Pfeifsprache wieder belebt, als sie vom Aussterben bedroht war und es geschafft, dass sie im Jahr 2009 in die Liste des immateriellen Weltkulturerbes aufgenommen wurde.

"Wir Schafhirten waren in den Schluchten verstreut und unterhielten uns über weite Distanzen hinweg mittels der Pfeifsprache", erzählt Isidro. Er demonstriert seine Fertigkeit, indem er den Zeigefinger der linken Hand quer in den Mund legt und eine schnelle Sequenz von Lauten erzeugt, deren Klang er mit der anderen Hand reguliert. Danach übersetzt er den soeben gepfiffenen Satz: "Mir ist die schwarze Ziege abhanden gekommen, hast du sie gesehen?"

Tradition wurde wiederbelebt

Der Zeigefinger der linken Hand wird quer in den Mund gelegt. Der Klang der Laute wird mit der anderen Hand reguliert: Isidro Ortiz demonstriert die Pfeifsprache.
Der Zeigefinger der linken Hand wird quer in den Mund gelegt. Der Klang der Laute wird mit der anderen Hand reguliert: Isidro Ortiz demonstriert die Pfeifsprache. ©  Ute Müller

Bis zu 4000 Worte kann man mit vier Vokalen und vier Konsonanten erzeugen. Inzwischen gibt es wieder mehr Menschen, die dieses Idiom beherrschen, in den vergangenen 25 Jahren hat Isidro seine Kunst an den Schulen gelehrt. "Die Kinder haben in der Woche eine halbe Stunde Pfeifunterricht, und so wurde die Tradition wiederbelebt", sagt er stolz. Doch ein neuer Feind ist schon ausgemacht: "Es sind diese Handys, auf denen alle rumtippen, und die jetzt sogar den persönlichen Kontakt zwischen den Menschen ersetzen", glaubt der Pfeifer.

Die gewundene Straße von Chipude zum Nationalpark zeigt eine weitere Bedrohung des reichen Inselerbes. Noch immer ragen die verkohlten Äste des Fayalbrezal-Waldes, einer Mischung aus Gagelbaum (faya) und Baumheide (brezo) in den Himmel. Dieser Waldtyp ist typisch für die höheren Lagen von Garajonay. Brandstifter, die bis heute nie gefasst wurden, sorgten im August 2012 dafür, dass zehn Prozent des Parks abbrannten, immerhin wachsen jetzt kleine Pflanzen am Boden nach. "Das dauert noch Jahre, bis die groß sind", sagt Waldhüter José Aguilar.

Bäume, die Wolken melken

Glücklicherweise kam der wertvolle Wald im Norden des Reservats, wo die Feuchtigkeit in den Baumkronen gebunden ist, unbeschädigt davon. Der üppige immergrüne Lorbeerwald, der am besten in Höhenlagen zwischen 500 und 1200 Metern gedeiht, nimmt den Nebelniederschlag der Passatwinde in sich auf. "Die Bäume melken die Wolken regelrecht ab", erklärt Aguilar. Er führt Wandergruppen gerne durch den als "die grüne Kuppel" bekannten Wanderweg im Hochtal von El Cedro im nördlichen Teil des Parks. Hier stürzt auch der Chorro del Cedro, der wichtigste Wasserfall auf den Kanarischen Inseln in die Tiefe.

Heute hängen die Wolken tief, bald dürfte es zu regnen anfangen. "Willkommen in meinem Nebelhaus", sagt José und lacht. Tatsächlich fühlt man sich im Dickicht seltsam beschützt. Die knorrigen, moosbewachsenen Äste, an denen zottelige Flechten baumeln und die zum Teil mannshohen Farne bringen die Fantasie in Schwung. Man würde sich nicht wundern, wenn plötzlich ein Fabelwesen zwischen den Bäumen auftauchte. (dpa)