Essen. In Grönland liegt die Geschichte immer nur einen Fußbreit entfernt: Auch heute noch sind Spuren der ersten Siedler in dem rauen kalten Land erkennbar. Doch unter dem Eispanzer ist Grönland ein reiches und schönes Land, das nach mehr Unabhängigkeit strebt und immer mehr Touristen begeistert.
Erik der Rote, der Mann, der Grönland vor gut 1000 Jahren entdeckte, hält den Titel als bester Marketing-Experte bis heute: 25 Boote voller Siedler lockte er um 980 nach Christus von Island herüber, 14 kamen an. Das Land „Grünland“ zu nennen, diese Rieseninsel aus Fels und Eis, mag ja stellenweise seine Berechtigung haben. Aber wenn die Grünen erfahren, was in dem grünen Land so vorgeht, sie würden Blauhelme schicken, mindestens.
Sagen wir es mal so: In einem Land aus Eis und Fels lebt es sich als Veganer nicht sehr gut. Auch wenn, ein Treppenwitz des Klimawandels, der Eisbergsalat mittlerweile da wächst, wo die Eisberge herkommen. Und Kartoffeln und Möhren, Tomaten und Rhabarber: Die Sommertage nahe am Polarkreis sind lang genug für genügend Wärme.
Alles rein biologisch
Schädlinge gibt es hier nicht. Die überleben den Winter nicht. „Alles ist daher rein biologisch“, sagt Mattak Nielsen, die Schaf-Farmerin, die an einem einsamen Fjord lebt, mit ihrem Mann Lars und dem Pflegesohn und drei Hunden, die ein sehr entspanntes Leben haben, wenn nicht gerade die 750 Schafe zusammengetrieben werden. Wenn das vor dem Winter geschieht, ist es gut, ein erfolgreicher Bock zu sein oder ein schwangeres Schaf. Ansonsten droht die wenig erfreuliche Fahrt zum einzigen grönländischen Schlachthof. Mit einem blutrot gestrichenen Landungsboot, das schon 1944 in der Normandie mit dabei war.
Geschichte ist in Grönland immer nur einen Fußbreit entfernt. Ein paar Tausend Siedler kamen einst, vor gut 400 Jahren, dann machte eine kleine Eiszeit das Land zu unwirtlich. Doch ist noch immer jede Spur sichtbar, die die Menschen hier je gezeichnet haben. Auch wenn Mitte des 15. Jahrhunderts in einer kleinen Eiszeit alles wieder verwaiste: Vor knapp 80 Jahren zogen neue Siedler in die Einsamkeit von Grönland.
„Ohne Kunstdünger geht leider gar nichts“, sagt einen Fjord weiter die Französin Agatha Devisme, die hier mit ihrem Mann lebt und ausprobiert, ob und wie französische Küche mit grönländischen Kräutern und Gewürzen funktioniert. In Kombination mit Lamm und Rentier und frischestem Fisch. Sie sieht mit Sorge den Wandel: Der Berg hinter ihnen birgt Uran, ein paar Kilometer weiter liegen Seltene Erden, das Rohmaterial für viele Elektronikartikel.
Wenn das Eis taut,gewinnt Grönland an Land
Die Grönländer, noch finanziell von Dänemark abhängig, träumen davon, die Bodenschätze auszubeuten, um selbstständiger zu sein. Vor wenigen Wochen hat das Parlament beschlossen, die Ausbeutung der Seltenen Erden und des Uranvorkommens zu ermöglichen. Mit nur einer Stimme Mehrheit. Die Bevölkerung ist hin und hergerissen zwischen ökologischen und ökonomischen Interessen.
Den Inuit war das Eis, der große weiße, bis zu drei Kilometer dicke Panzer, unter dem noch fünf Sechstel des Landes verschwinden, immer schon unheimlich. Ihr Leben spielte sich am Wasser ab. Wenn das Eis taut, mögen vielleicht die Niederlande und die Malediven untergehen, Grönland aber gewinnt Land. Ein raues, schönes, rohstoffreiches Land. „Ein Land, ein bisschen wie früher die DDR“, sagt Ingo Wolff, der in Rodebay mit seiner Frau ein Restaurant betreibt. „Im Prinzip gibt es alles, man muss nur monatelang warten.“ Die meisten Unternehmen sind in Staatsbesitz oder Genossenschaften, vom Lebensmittelhandel über die Fluggesellschaft bis zur Post. Für Privatunternehmen ist das dünn besiedelte Land zu unattraktiv.
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Was die Ähnlichkeit zur DDR angeht: Eine Mauer gibt es nirgends. Die Welt ist unüberwindlich genug – und dabei zum Greifen nah: Die Berge der Diskoinsel, 60 Kilometer entfernt, stehen kristallklar am Horizont. Warum die Insel so heißt, weiß niemand. Das Nachtleben wird es wohl kaum sein – allen Effekten des Nordlichtes zum Trotz. „Wenn wir nach Weihnachten zurückkommen aus Thüringen, wissen wir nie, wie lange wir brauchen“, erzählt Ingo Wolff. Flüge fallen oft tagelang aus und ob der Weg übers Eis mit dem Hundeschlitten passierbar ist, weiß man vorher auch nicht. Im Sommer kann man per Boot zu ihnen, ein Tagesausflug vom Unesco-Welterbe des Eisfjordes von Ilulissat. Ein Weg, der sich lohnt, für einen der frischesten Fischteller der Welt.
Berge, die noch keinen Namen tragen
Lodden, lachsähnliche Fische, landen hier zu Tausenden, Shrimps werden für alle Welt gefangen und die rote Bucht heißt wohl so, weil sie sich gelegentlich vom Walblut färbt. Hier ist einer der Schlachtplätze der Inuit für die Meeressäuger.
„Sei ein Pionier“, lautet der Slogan der Tourismuswerber für Grönland, ein Satz wie von Erik dem Roten. Und wie ein Pionier fühlt der Reisende sich noch heute in dieser Landschaft. Wer in Grönlands zweitgrößter Stadt Sisimiut einen kleinen Aussichtspunkt erklimmt, merkt erstens, dass er 70 Kilometer weit gucken kann, und zweitens, dass die so nah erscheinenden Berge noch keinen Namen tragen. Unbenanntes, nie betretenes Land sind.
Jede Straße endet an der Stadtgrenze. Wege führen übers Wasser, übers Eis oder durch die Luft. Jeder Weg ein Wagnis. Und eines lehrt Grönlands Geschichte: Die Spuren, die die Menschen hier hinterlassen, werden noch für Jahrtausende sichtbar sein. Jeder Fußbreit.